Ποιειν Και Πραττειν - create and do

Treffen in der Fußgängerzone

Ob Sprach- und Kulturzerstörung mit einem Verlust an Erotik einher geht, wie Klaus Heinrich zu meinen scheint, oder ob die Orientierung anhand der in Fernseh- und sonstigen Medienwelten angebotenen Kultur heutzutage schwieriger geworden ist, mag aus subjektiver Sicht noch nicht entscheidbar sein. Definitiv ist aber der Inbegriff des Subjekt-losen gleichsam sprachlosen Subjekts, insofern nicht unmittelbar erkennbar weil völlig vom Schweigen eingehüllt. Ob Schutzhülle oder Katakombe, das was daraus entsteht, kann noch ehe es das Licht erblickt hat, bereits wie ein von der Erde aus gesehener Stern vergangen sein. Gleichsam wird behauptet ohne Erotik geht gar nichts, doch die Abhängigkeit von den Medien zwecks Anerkennung liefert viele einer Scheinwelt aus. In ihr verbirgt sich die Bedeutungslosigkeit die alles überdauert, auch die Reklame im Fernsehfilm.

Allerdings scheint es im Literaturbetrieb stets weiter zu gehen. Selbst das tragische Ende einer Ingeborg Bachmann oder Sylvia Plath beflügelt die Neugierde in die Tragik einer Erotik. Max Frisch lässt den Heutigen, also den Intellektuellen ohne Aussicht auf Präsenz in der Gegenwart, vergeblich danach suchen. Zwar literarisch verarbeitet, kann solch eine Suche Spuren der Erinnerungen an seine Beziehung zu Ingeborg Bachmann enthalten. Die wiederum beschreibt wie sie auf einer Konferenz in Wien vom Vortragenden durch einen Blickwechsel mit einem Mann im Publikum abgelenkt wurde. Eindrucksvoll beschreibt sie wie die Erotik solch eine Anziehungskraft entfaltet, dass diese beiden Menschen nicht länger fremd zueinander den Konferenzraum verlassen.

Folglich erhalten Dichterlesungen weiterhin Zulauf und das Publikum bekundet Interesse an der neuen Poesie. Was allerdings davon im Alltag Spuren hinterlässt, ist zu wenig, um einen neuen Humanismus zu begründen. Eher findet ein seltsames Ausbalancieren zwischen Wort-reichen Gestiken der Autoren und der sprachlichen Leere in den Straßen statt. Hölderlin suchte in seinem Gedicht 'Brot und Wein' danach, aber statt die Differenz zu überbrücken, zog er die lebendige Vorstellung vom Leben im Süden vor. Der Unterschied mag daran liegen, dass im Süden die Menschen nach getaner Arbeit zum Tanz und zum Reden miteinander da bleiben, während alle im Norden nach Laden- bzw. Marktschluss sofort nach Hause gehen. Sprichwörtlich erscheinen nach Beendigung die Arbeit die Gehwege als seien sie zum Fegen mit dem Besen hoch gekippt. Schließlich ist kein Mensch mehr weit und breit zu sehen!

Rückblickend auf den zurückliegenden Tag verdichtet sich der Eindruck als würde durchs Geschäfte-Machen-Wollen alles künstlich am Leben gehalten werden. Ein erheblicher Zweifel schleicht sich weil den Gefühlen und Empfindungen bei all diesen Erlebnissen und Erfahrungen nicht mehr zu trauen ist. Ganz anders hingegen die Kunst zu leben, insofern die Gabe gewissen Dingen, Menschen und Handlungen eine Bedeutung zu geben etwas anderes voraussetzt. Manche meinen hierfür käme der Mythos in Betracht, aber in Wahrheit kann nur die erotische Einsicht in bestimmte Zusammenhänge etwas besonderes hervorheben. Das Geben von Bedeutung mag noch nicht die Bedingung des 'sui generis' erfüllen, aber es lässt ahnen wie sehr die Erotik die Teilhabe am kulturellen Leben erstmals ermöglicht und dann weiterhin verändern kann.

Das Bewusstsein für bedeutsame Zusammenhänge entwickelte u.a. die Gruppe '47 um Richter, aber erst Dank Ernst Schnabel gelangten diese Schriftsteller an die Öffentlichkeit. Schnabel selber setzte nach dem Krieg frei den Traum vom Reisen. Er vermochte es auch trotz etlicher Schlaganfälle die Anziehungskraft der Erotik aufrecht zu erhalten. Ihm waren die rhetorischen Tricks eines Walter Jens suspekt, darum besser sie auf Distanz zu halten. Ihm waren einfach andere Kategorien der Literatur bewusst. Leider verblieb er oftmals ungeachtet am Rande der Akademie der Künste der stille Beobachter des literaischen Getriebes. Dennoch sah er ganz klar, dass die Verdinglichung des Bewusstseins objektiv auch ein Problem sei für selbst diejenigen, die sich der Begierde für Literatur zwecks Verstehen einer neuen Welt verschrieben hatten.

Bezeichnend für den Vorgang einer Verdinglichung ist was sich in den Fußgängerzonen abspielt. Zwischen all den Schuhen und anderen Preis-werten Angeboten gibt es zwar noch die Suchenden literarischer Spuren, doch auch sie wundern sich wer überhaupt diese Ware braucht. Leider merken sie erst wenn zu spät dass der Überfluss ein gewollter ist, weil er den realen Bedarf verdeckt und dadurch die Orientierungslosigkeit stiftet. Statt das aber so zu benennen, wird von geistiger Verwirrung gesprochen. Das gedient dann so weit dass junge Leute behaupten ohne Nietzsche könnten sie nicht leben. Gemeint sei der Versuch nach Befreiung von Religion gelingt nicht ganz, obwohl alles als sinnlos erscheint.

So treten Widersprüche in Erscheinung ohne jedoch viel Aufsehen zu erregen. So sind fast regelmässig in den Fußgängerzonen außer den dahin eilenden Hausfrauen mit ihren Plastiktüten die zahlreichen Gestrandeten zu sehen: Bettler, aber auch Musikstudenten die etwas Geld durchs Spielen verdienen wollen und drei Jugendliche die anscheinend momentan nicht wissen was mit ihrem Leben anzufangen ist. Hinein gezogen werden alle von einem unsichtbaren Staubsauger in eine Scheinwelt des Konsums.

Viele suchen jenes Glück das die Reklame verspricht falls sie jene Ware kaufen. Sie alle hoffen im Beruf Erfolg zu haben und sogar im Leben die große Liebe zu finden. Außerdem gibt es im Zweifelsfall den Reisestand wo die nächste Urlaubsreise gebucht werden kann. Das verwandelt schließlich die Fußgängerzone in einen Zufluchtsort weil alle vom selben Wunsch angetrieben sind. Er lautet insgeheim nur so schnell wie möglich weg von hier, doch keiner will das laut sagen. Also wird der Wunsch zum kollektiven Geheimnis gemacht.

Je mehr die Menschen sich in einer Verneinung von was sie 'hier und jetzt' tut, hinein steigern, können sie diese Stadt nicht mehr ertragen. Die negative Wahrnehmung tritt auf im Zusammenhang mit dem Arbeiten-müssen, und geht über ins Verneinen jeglicher Möglichkeit etwas bedeutsames erleben zu können bzw. erlebt zu haben. Der Grund dafür entscheidet über die Permanenz des Urteils. Anscheinend weil nicht gelebt wird, kommt es zu keinem bedeutsamen Erleben. Beides wird durch ein besonderes Schweigen überbrückt. Freud versuchte dazu zu sagen, wenn zwei Menschen sich lieben, hört man kaum etwas von den beiden; nur wenn sie Probleme bekommen, fangen sie an sich mit anderen zu verständigen. Was also gesellschaftlich mitgeteilt wird, ist negatives Wissen. Die Wege zum Erfolg werden eher verschwiegen, dafür die allgemeine negative Zustand beschworen. Diesen Vorgang zu verstehen bedarf einer besonderen Aufmerksamkeit für was solch ein Schweigen besagt. Es deutet auf eine subtile Art, und das in Abwesenheit eines lebendigen Subjekts, sich und die anderen für eine noch weiter gehende Flucht von dieser Welt vorzubereiten.

         

          Auf Efia, Griechenland                                                   @HF 2014

Zu sehen sind dann nicht nur die Plakate mit blauem Meer und Sonnenschirm als Symbol einer ewigen Sehnsucht im verregneten Norden, sondern im realen Leben tummeln sich die vielen Touristen entlang besonders hergerichteten Stränden. Da diese Baderessorts meistens voll kommerzialisiert sind, gibt es da fast alles was das Leben bunt erscheinen lässt: Boutiques, Bars direkt neben dem Schwimmbad, Spielplätze für die Kinder mit etlichen Geräten aus Plastik und draußen auf dem Meer Motorschlitten und Wasserski-Ausprobierer. Im Sommer geht es genauso dicht zu wie auf den Pisten im Winter oder halt dem Jahr über in den Fußgängerzonen. Kein Wunder wenn Managers den Sog der Massen die immer mehr Massen an Menschen anziehen, aufmerksam studieren.

In Wirklichkeit reflektiert das die Folgen einer Sehnsucht nach einem anderen Leben. Herrmann Broch hat in 'Esch, oder die Anarchie' darauf aufmerksam gemacht, dass die Sehnsucht eine Folge der Romantik sei. Anscheinend bewahrheit das eine einfache Nicht-Regel, nämlich wo nicht gelebt wird, kann auch nicht geliebt werden. Es bleiben nur der Anti-Romantiker zurück weil sie nicht ganz die Begriffe von Liebe im Zusammenhang mit einem Anspruch auf Inhalt aufgegeben haben. Folglich arbeiten sie allerdings schweigsam an ihrem Profil weiter und leiden darum ebenso darunter etwas unglücklich zu sein. Manches will halt nicht so ohne weiteres gelingen.

Dieses Erscheinungsbild der Stadt gibt es durchaus in Europa, wenn nicht sogar in der ganzen Welt. Fast jede Stadt hat ihre Fußgängerzonen. Rings herum gibt es die Hochhäusern mit ihren zahlreichen Büros und überall in deren Nähe die beliebigen Schnellimbiss-Stuben oder mehr anspruchsvollere Speiselokals.

Der Rhythmus in der Stadt wird nicht nur vom Wochentag und Wochenende geprägt, sondern auch um welche Jahreszeit es sich handelt. Denn ob im Winter oder im Sommer, hier wie dort streben viele nach 'Entspannung' aber auch nach einem Entkommen der Langweile. Allerdings entwickelt sich dabei ein Schweigen das sich über die ganze Stadt wie eine dünne Filmhaut legt, sobald die Straßen entleert, keine Menschen mehr weit und breit zu sehen sind.

Die Auszeit von Arbeit, genannt schlichtweg die Urlaubszeit, überlässt die sogenannte Arbeitswelt und die Welt zuhause dem Schweigen. Offenbar ergibt das Reden über Arbeit den einzig legitimen Grund in der gemeinsamen Sprache anwesend sein zu können. Doch hier bestehen, philosophisch gesehen, zwei widersprüchliche Zustände. Ohne Arbeit zu sein, das liefert jedes Subjekt dem Wahnsinn aus weil völlig abgetrennt von der Vernunft, es nicht mehr irgend einer Arbeit zugeordnet werden kann da nicht mehr kategorisch erfassbar. 1

Zugleich herrscht auf Arbeit eine Begriffssprache in der das Subjekt verschwindet, eine Ich-Bezogenheit also ausgeklammert wird. 2 Letzteres wird durch die Begriffssprache als Wissenschaft institutionalisiert, um scheinbare objektive Zusammenhänge zwischen Gesetz und Handlungen herzustellen. Eine Ich-Bezogenheit, geschweige ein Arbeiten das sich auf ein Selbstverständnis begründet, ist völlig ausgeschlossen. Heißt es bereits bei Hegel, das Ich geht im Begriff zugrunde, um als Identität der Staatsordnung dienlich zu sein. Adorno versuchte jene Nicht-Identität aus dem Schweigen herauszuholen aber er selber verblieb seiner negativen Dialektik treu. Die besagt subjektives Reflektieren kann niemals von den strukturellen Determinanten befreit werden.

Es kommt noch etwas weiteres hinzu. Azade Köker und ihre Studenten zeigten in einer Ausstellung wie Menschen ihre alltägliche Identität im Schrank ablegen, wenn sie vor Beginn der Arbeit den Arbeitskittel anziehen. 3 Umgekehrt lassen sie die Arbeitswelt zurück, wenn sie durch ein Abhängen der Arbeitsidentität und einer strikten persönlichen Abtrennung von Arbeit, endlich im Urlaub bzw. Freizeit eine positive Selbsterfahrung machen wollen. Das mag zustande kommen, wenn sie insbesondere die Augen übers offene Meer schweifen lassen und dabei etwas am Horizont entdecken.

Dennoch scheinen solche Erfahrungen nur dann zu gelingen, wenn sie sämtliche negative Selbsterfahrungen bzw. das nicht erfahrene Selbst dem Schweigen übergeben. So werden ganz bestimmte Angelegenheiten regelrecht mit einem Redeverbot besetzt. Nach und nach kommt es dazu, dass alle inzwischen darunter leiden wenn zu Tisch, weil halt kein gutes Gespräch aufkommen will. Im Grunde genommen haben sie sich nichts mehr zu sagen. In Vermeidung unangenehmer Wahrheiten bedienen sie sich immer mehr einer höflichen Floskel zwecks Verständigung, oder sie reden wiederholt über die selben Dinge, sei es deren Sorgen über die Kinder oder wie ein Essen zu gebreitet wird. Solch eine Spracharmut bewirkt zunächst erstmals nur eine gewisse Unruhe am Abendtisch aber über die man sich hinweg retten kann, indem man sich einiger Ablenkungen bedient. Unterhaltung als Betrieb der Freizeit ist darum höchst begehrenswert. Doch mit der Zeit klappt auch das nicht mehr: das Wegsehen oder das Verdrängen der zurück gelassenen Probleme, wenn im Urlaub.

Aber einmal wieder zurück, zeigt sich doch sehr schnell nichts, aber nichts hat sich an dem geändert wovon man geflohen ist. Es kommt aber eine weitere, sehr ernstzunehmende Frage hinzu, denn was geschieht wenn nicht nur die Angestellten im Betrieb, sondern ebenso die Literaten und Poeten zu Ich-losen Gestalten geworden sind und darum es nicht vermögen durch ihre literaischen oder dichterischen Werke dem Ich-Verlust etwas entgegen zu halten? Viele sehen inzwischen es nicht mehr als Aufgabe der Literatur die allgemeine menschliche Identität sprachlich zu bewahren. Eher verwandeln sie das in eine Art Publikums-Beschimpfung (Peter Handke) oder die Ich-losigkeit wird als Mensch ohne Eigenschaften (Robert Musil) dargestellt. Da scheiden sich sozusagen die Geister was noch Literatur zu sagen hat. Günter Grass in 'Treffen in Telgte' zeigte zum Beispiel wie sich die Barock Dichter in den Jahren des Dreißig-jährligen Krieges redlich darum bemühten zumindest die Einheit der Sprache wenn nicht zu dichten, dann doch zu stiften. Laut Schütz scheiterten sie nicht nur mangels an Ehrlichkeit, sondern ihnen fehlte das poetische Etwas dass er bei den italienischen Dichter vorfand und deswegen sehr leicht für seine Opernstücke verwenden konnte. 

Anders richtete sich die Literatur in der Nachkriegszeit aus als es die DDR noch gab. Die Autoren durften sich in der Republik nur drei Themen vornehmen: den Held der Arbeit, den Held des Anti-Faschismus und den Antiken-Held. Alle hatten Helden zu sein, ums Durchschnittsmaß zu übertreffen. So kam es zum Jakob, dem anti-Helden von Uwe Johnson. In der Gestalt eines ruhmreichen Fahrradrennfahrers wurde die Geschichte der Republik durchquert. Dabei ließ Uwe Johnson den Leser durch seine Erzählweise die Besinnungslosigkeit der Massen während sie dem Helden entlang den Straßen folgten, wahrnehmen. Das war für ihn ein Grund der ausbleibenden Ich-Findung in der Republik. Als Autor verneinte Uwe Johnson aber nicht die Menschen. Eher hinterfragte er die Zwangsformation einer künstlich geförderten Ideal-Gestalt der die Massen laut DDR Funktionäre zu folgen hatten. Die Staatslehre verlangte solch ein Setzen an Beispielen. Heutzutage wird das von der EU Kommission im Sinne von 'good practices' fortgesetzt.

So betrachtet, kann jeder Eindrücke sammeln und dabei die Angebote aufzählen die bestimmte Gefühle wecken. Zugleich bleiben die Städte insbesondere im Sommer mit ihren leer gähnenden Straßen zurück. Ein anderes Straßenbild bestimmt dann die Erscheinung weil ein Mantel des Schweigens über alles zu hängen scheint. Das besagt viele Menschen haben aufgehört an der Kontinuität ihrer Identität mit Konsistenz zu arbeiten.

1 Michel Foucault in 'Gesellschaft und Wahnsinn' versuchte diese Trennung aufzuheben.

2 Sigmund Freud, beschreibt in „Die Verneinung“ wie am Ende der kollektiven Arbeit nur das entstandene Produkt die Identität von 'Made in Germany' erfährt, aber jene die sie herstellten, keinen Besitzanspruch auf diese Produkte stellen können und darum ohne Identität verbleiben bzw. einer Entwicklung hin zur Identität ausscheiden.

3 Hatto Fischer (2003) „Ein Gespräch zum Thema: kulturelle Identitäten und Europa“ in: 'Identitäten – Orte, Beziehungen, Gedächtnis, Körper'. Ausstellungs-Katalog Azade Köker (Herausgeber). Vienna: Turia + Kant

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