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Rudolf Hagelstange - Ballade vom verschütteten Leben

 

                                                In Erinnerung an Helmut Frieser *

                                                der Rudolf Hagelstange schätzte

 

(* Helmut Frieser war Prof. für Chemie an der Technischen Universität von München, ein hervorragender Wissenschaftler der die Umwandlung des negativen ins positive Image erforschte, selber malte und Cello spielte, ja, auch zehn Jahre in einem rußischen Lager für Wissenschaftler Gefangener war und dort gemeinsam mit seiner Frau einen Tennisplatz baute indem sie die Ziegelsteine zerklopften, um so den roten Sandboden zu bekommen.)

 

Einleitung

Es handelt sich bei dieser Besprechung um die Ballade vom verschütteten Leben von Rudolf Hagelstange. Der Dichter bringt zu Beginn ein Zitat:

Das Leben ist eine Folge

von Toden und Auferstehungen

Anschließend gibt es eine Kurzmeldung, wobei dies die Annahme stärkt das Gedicht hat mit dem Leben von eben diesen Männern, die in einem Bunker überlebten, zu tun. Es sind Männer die nicht mitbekamen, daß der Zweite Weltkrieg in 1945 längst zu Ende war. Sie halten damit den Kriegszustand als Überlebende unter außergewöhnlichen Bedingungen aufrecht. Der Dichter will damit etwas sagen oder wo er hinaus will, das überlässt er dem Gedicht selber.

Warschau, 17 Juni 1951 (AP) - eine Kurzmeldung

"Polnische Arbeiter bargen in diesen Tagen bei Aufräumungsarbeiten an einem unterirdischen Bunker in Babie Doly bei Gdingen zwei Männer, von denen einer nach wenigen Schritten, die er im Tageslicht getan hatte, tot zusammenbrach. Sie waren die letzten von sechs deutschen Soldaten, die Anfang 1945 in einem riesigen Vorratsbunker der damaligen deutschen Festung Gotenhafen durch eine Sprengung von der Außenwelt abgeschnitten worden waren.

Der unzerstörte Luftschacht des Bunkers und die großen Lebensmittelvorräte hielten die Eingeschlossenen am Leben. Die Berichte sprechen davon, daß zwei der Eingeschlossenen bereits nach kurzer Zeit Selbstmord begangen haben. Von den vier übrigen wurden zwei krank und starben."

                                          ***************

 

Am Anfang stand nur die Meldung

Die Meldung steht am Anfang des Gedichtes das die Welt der Eingeschlossenen nachzeichnet und veranschaulicht. Es sind keineswegs Kausalprinzipien, insbesondere jene die zwischen Krieg und Erinnerungen existieren, die veranschaulicht werden sollen. Eher wird Analogie-ähnlich vom Körper ausgegangen weil jener nach einer Weile nicht mehr mitmachen kann. Im Zustand der Erschöpfung taumeln dann die Gespenster der Erinnerungen herein. Sie sind abgemagerte und oftmals bis zur Unkenntlichkeit verschwommene Umrisse von einst gemachten Erfahrungen in der Kindheit, die aber plötzlich als Schreckenbilder noch größer als damals erneut auftauchen und Todesängste einjagen. Das Lebendige im Geist will dabei die Haltung bewahren, aber das geht nicht "beim besten Willen." So bereitet sich vor die Gedächtnisschwäche, und zwar mit einer einmaligen Ausrede nicht mehr in der Dunkelheit und ohne Ausweg länger aushaaren zu können.

Dabei widerspricht so fast alles im menschlichen Leben dem Grundsatz von Kant. Der Philosoph meinte, daß der Mensch ein krummes Holz sei das nicht gerade gebogen werden könne. Aber dem steht seit 1945 die philosophische Aufforderung des 'aufrechten Gangs' gegenüber. Zur Zeit von Ost und West Berlin bezog die Nachkriegszeit sich auf eine Spaltung in diesem Gang durch die Welt mit einerseits die Bundesrepublik im Westen und anderseits die ehemalige DDR im Osten. Was auf beiden Seiten sich abspielte, stellt allerdings in Frage die gemeinsame Verantwortung für den Krieg und was daraus zu folgen habe. Denn in dieser Spaltung macht sich unter anderem ein anderer Begriff von Unschuld bemerkbar.

Es scheint so als wolle die Nachkriegszeit sich in einer Art Unschuld hüllen, dabei das Kriegsverbrechen verborgen halten, und darum ein Schweigen allen aufzwingen. Somit scheint es schlecht bestellt um eine Suche nach Wahrheit, geschweige sie nach dem Krieg  kulturell bewerkstelligen zu können. Die Suche wird obendrein von einer Tatsache erschwert, insofern das Verborgene tief unter der Erde begraben zu sein scheint. Dies dann will Hagelstange mit seiner Ballade zu Tage befördern. Er tut es nicht wie ein Bergbauarbeiter, sondern versucht eher einen Bezug von unten nach oben, und umgekehrt, herzustellen.

Es ist eine Art Aufnahme erneuter Hoffnung und Kommunikation in einer Gleichzeitigkeit die aber nicht gelingen kann, weil jene seltsame Welt der Verschütteten da unten, in der Tiefe des Bunkers, eine ZEIT ohne Zeit ist. Dennoch will die Ballade auf eine neue Sage hinaus, und womit Hagelstange die Kriegs- und Nachkriegszeit miteinander in Verbindung bringen will.

Ernst Bloch hat allerdings die Sage in Zweifel gestellt. Seiner Meinung nach wiederholt die Sage lediglich die Dinge, also das Alte wird im Neuen so herstellt als gäbe es keine Veränderung. Demnach wäre solch eine Ballade noch weit entfernt von einer Kunst, die Carol Becker, Studentin von Herbert Marcuse, als subversive bezeichnet, und somit ebenfalls laut Bloch es versteht den bloßen Wiederholungszwang zu untergraben, um die Erde zu lockern - gleich einem Bauer, der im Rythmus der Zeit neues entstehen lassen kann, um nicht nur zu überleben, sondern auch frei von eben diesem Zwang zu leben.

Anders gedeutet, das Verborgene gleich dem Begraben von Leben ohne gestorben zu sein, umschreibt von Anfang an dieses Gedicht von Hagelstange. Wohl wissend, daß das „verschüttete Leben“ nicht leicht aufspürbar ist, erhält Freuds Aufsatz zum 'das Unbehagen an der Kultur' eine zusätzliche Bestätigung was er allerdings nicht vollkommen voraussehen konnte, aber was unmittelbar mit den Verschütteten zum Vorschein kommen wird, wenn einmal geborgen. Denn nur einer überlebt. Der andere bricht beim Eintreten des Lichts zusammen, ähnlich zum Schicksal einmal geborgener Bergbauarbeiter wenn sie endlich Tageslicht erblicken. Es scheint als würde das Leben nur so viel Licht aushalten, insbesondere wenn nicht mehr alltäglich daran gewöhnt. Doch vom natürlichen zum Erkenntnislicht ist es noch sehr weit, sehr...

Die Rückkehr an das Licht erinnert zuerst einmal an den Zustand von Bergbauarbeitern wenn sie nach ihrer Schichtarbeit an die Oberfläche der Erde abermals gelangen. Dunkelheit genauso wie Licht kann im Leben des Menschen kein Dauerzustand sein. Im Süden Europas werden außerdem die Fensterläden geschlossen wenn die Sonne am höchsten steht, denn dann wird der Schatten, das Verweilen im Dunkeln, bevorzugt.

Anders das Höhlengleichnis von Plato. Er vergleich das Hinaustreten aus der Dunkelheit der Höhle mit dem Eintreten ins Licht der Erkenntnisse, das aber zu grell wirkt wenn nicht mit anderen geteilt, und darum zum Verhängnis wird weil die anderen das nicht wahrhaben wollen, was nicht Schein oder Illusion, sondern Wirklichkeit ist. Plato beschreibt dabei ein zusätzliches Problem. Denn er erwähnt die Schönheit der Erde doch diese ästhetische Wahrheit kann erst im Licht selber wahrgenommen werden. Folglich bleibt seitdem in vielen philosophischen Diskursen der Inbegriff des Erscheinens umstritten. In der Christlichen Lehre wirkt das Auftreten der Engel wie eine Blendung, und an die Erscheinung von Jesus wird erst dann daran geglaubt, als jener bereits tod ist und trotzdem seine Existenz auf Erden zum Bestandteil einer allgemeinen Glaubenslehre geworden ist. Kompliziert wie das Leben selber ist das eine erste Deutung in welch einer Verbindung ein regelrechter Verblendungszusammenhang zum Nicht Wahrnehmen-wollen besteht. Plato begründet darauf seine anti-demokratische Haltung, was wiederum eine verherrende politische Folge laut Popper hatte, denn es mündete in eine totalitäre Ideologie. Doch auch ohne dieser Kritik an der Philosophie kann nachvollziehbar gemacht werden, daß es eine komplizierte Angelegenheit ist wie Licht mittels einsehbaren Begriffen so zu regulieren, daß Licht und Sehen in Einklang miteinander stehen. Das Problem der Wahrnehmung wird zusätzlich erschwert wenn diese Begriffe von Anschauungen laut Kant abhängig sind und erst dann werden die Dinge mittels des Lichtes einsehbar sein. Die Befreiung von dieser Abhängigkeit von einer Anschauung scheint dabei entscheidend für den Fortgang des Denkens zu sein.

 

Staub als Stufen

Das Gedicht spricht nicht von Erkenntnisstufen, sondern von nur Stufen und die wiederum sind nur aus Staub gemacht.

"Alles ist Staub. Das sind nur Stufen."

So beginnt das Gedicht, in Wirklichkeit eine Ballade die in Erinnerung an Alexander Popes 'das verlorne Paradies' als solches aufgefasst und verstanden werden kann.

Um zugleich die Spannung fürs ganze Gedicht zu vermitteln, sei hier zugleich das Ende der Ballade zitiert:

"So ist die neue Sage, die vom Staube,

die alte nur vom ewigen Licht. Wir zögern lange

- ein Leben lang -, in ihr zu lesen.

Da steht der Staub auf, stiebt und wirbelt nieder,

bedeckt den staubgeformten Adam, wirft ihn

zurück ins Nichts und läßt ihn ruhen.

Dann ruft das Licht, Geschlechter um Geschlecht,

das Ungeborenen, die Verlorenen, die sie zeugen

aus tausend schwarzen Stillen endlich

ein einzig helles Kind."

Erstaunlich ist daß Hagelstange das ewige Licht in Verbindung mit dem Staub bringt. Er erkennt dadurch eine menschliche Schwäche, und zwar erst am Ende des Lebens versuchen die meisten im Staub zu lesen, wie es mit diesem Licht bestellt ist. Doch Zuversicht gibt nicht so sehr preis, als daß Hagelstange meint das Licht würde dennoch dazu aufrufen, ein Kind des Lichtes zu zeugen, und das trotz der Tatsache, daß es sich hier um eine "neue Sage", und zwar die vom Staube, handelt, obwohl sie "die alte nur vom ewigen Licht" sei. Wenn dies kein Widerspruch sei, was dann? Anmerkungen werden hier kaum genügen, um diesen Widerspruch zu begreifen. Und wenn eine Sage, dann mehr als nur das bloße Sagen oder was über das Statische hinaus reifen würde, gäbe es Zeit diese Geschichte gründlich zu lesen. Doch das Risiko nicht das im Staub Geschriebene zu lesen, das besteht allemal. Folglich wäre es ratsam diese Ballade mal in Ruhe ganz zu lesen, um so dem Widerspruch auf den Grund zu kommen.

Ausgang mag folgende Frage sein: was wird ferner über dieses Kind in den Sternen geschrieben? Zwar gibt es keine konkrete Aussage darüber im Gedicht, aber es berührt jene die vom Krieg heimkehrten und die Neugebornen zum ersten Male sahen, aber nicht mehr sich darin wieder erkannten. Sie waren im Krieg dem häuslichen Leben und sich selber darin fremd geworden.

 

Die Nachkriegszeit ab 1945 besteht noch immer

Das Verhältnis nach 1945 war eine verkehrte Welt. Selbst Jahre danach schien es als wären soeben die Bomben explodiert und die Stadt würde noch brennen. Überall lagen in Trümmern die ehemaligen Häuser. Was aber über der Erde als Ruine sichtbar wurde, insbesondere als in Berlin dies zu einer bevorzugten Spielstätte für eine neue Kunstrichtung wurde, hielt für eine lange Zeit im UNbekannten all das was sich unter der Erde abspielte. Folglich macht der Stoff dieser Ballade von Hagelstange das zu einem besonderer Inbegriff der Nachkriegsliteratur.

Die Ballade widmet sich nicht so sehr dem Schicksal als solches, sondern vielmehr dem Staub und dessen eigenmächtige Sprache. Es soll vorkommen, daß die Geschichte im Staube geschrieben wird. Somit ist das was Klaus Henrich später als 'das Denken und der Staub' betiteln wird, aber was sich auf Antigone bezieht, ein gemeinsamer Grund der Nachkriegszeit. Sie wird mit einem Niemandsland verglichen, denn sobald nur im Staub existiert wird, gibt es weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft. Es ist der Zustand von Antigone: lebendig begraben zu werden und darum weder tot aber auch nicht lebendig genug, um den Widerspruch über der Erde artikulieren zu können. Somit wird im Niemandsland nur geahnt was aus dem Leben geworden ist, und in der Ballade als Art Nacherzählung wie es jenen Männern unter Erde ergangen sein mag seitdem der Krieg seine Schatten über die Erde wachsen liess, aber unter der Erde der Zweifel noch im Krieg überleben zu können der stärkste Grund zu existieren war.

Dabei wird die Rückkehr zum Staub zum Metapher für den Tod oder vielmehr zu einem Zustand wo der Staub obsiegt. Er kann abgetan werden als Art Schicksal für denjenigen der gestorben ist und somit zu einer trockenen Erde zurückkehrt als wäre er von dort gekommen. Aber mit diesem Gedanken liesse sich noch nicht die Ballade als solches einkreisen bzw. begreifen. Poetisch hiesse das wie folgt:

 

Ein Mund arbeitet fortlaufend

als würde am Rätsel gekaut

doch aus der Sicht des Krieges

regt sich erst dann nichts mehr

wenn einmal alles verwüstet

nur noch Staub aufgewirbelt

das Verkennen des Tages

zur zwanghaften Logik wird.

Einiges dazu mag durch Hinweise auf die Determination des Denkens erläutbar sein. Schließlich handelt es sich um eine fatale Staatsphilosophie die seit Hegel um sich griff, aber die nicht hier, an dieser Stelle, weiter zu beschreiben ist, denn die dadurch ausgelösten, gleichfalls grauenhaften Mechanismen lassen sich nicht so ohne weiteres wiederlegen. All zu oft wird das Unverstandene bzw. die Erinnerung an jene Ort als notwendige Rückkehr, will das noch nicht Verstandene mal behoben werden, im 'an-und-für-sich' fest eingeschlossen und somit setzt sich das Bewußtsein zwar nicht damit auseinander, wird aber trotzdem davon stark betroffen sein weil es die Aufhebung des Vergessenen zugleich unerreichbar macht.  

 

Die Rückkehr zum Leben

Doch lohnt es sich erstmals die Eröffnung von Hagelstange voll und ganz wahr zu nehmen, um seinen Inbegriff von Staub als Stufe in der Entwicklung der Menschheit nachvollziehen zu können. Die Ballade wird von ihm wie folgt eingeleitet:

"Alles ist Staub. Das sind nur Stufen."

...

Hört denn die neue Sage vom Staube,

sechs oder sechzig Fuß tief unter dem Lichte.

(Unter dem Lichte ist tausend gleich eins."

 

Mit dieser Einleitung gesteht 'unbewußt' Hagelstange, daß die Rückkehr zum Leben vor dem Kriege gleich dem Leben danach nur dann möglich ist, wenn einmal dem Verlangen für einer gewisse Unschuld nachgegangen wird. In der dichterischen Sprache hiesse dies eine Art Ablenkung zu inszenieren, oder den hoffnungsvollen Ton einer möglichen Wiederauferstehung anzudeuten. Fast mutet das religiös an. Ferner erlaubt sich der Dichter das Erscheinen des Krieges fast ähnlich zu Historikern der Antike zu einem bloßen Naturereignis hochzustilisieren. Es mag durchaus die Dramatik gleich dem Antikenspiel stilistisch zu beschreiben, aber dieser Zweite Weltkrieg war weitaus mehr als nur ein Naturereignis.

 

Sind noch Gedichte nach Auschwitz möglich?

All das und noch mehr will gesagt sein, nicht um Hagelstange Unrecht anzutun, aber weil die innere Auseinandersetzung der Nachkriegsgenerationen mit denjenigen die den Zweiten Weltkrieg durchmachten und selber gestalteten, längst nicht ausgestanden ist. Da diese Auseinandersetzung nicht zu sehr in diesem Gedicht statt findet, muß dem Gleichnis von Krieg mit einem Naturereignis widersprochen werden. Wäre der Krieg bloß Naturkatastrophe, ginge noch der Vergleich mit den Verschütteten, um das verborgene Leben in aller Unschuld ausfindig zu machen.

Doch es war nicht nur ein Krieg der zwischen 1939 und 1945 statt fand. Vielmehr wurden obendrein Vernichtungslager errichtet und Millionen an Menschen einfach ermordet, ja industriell ähnlich zu Staube gemacht, so daß Adorno einer der Ersten war der urteilte, daß 'kein Gedicht nach Auschwitz mehr möglich sei'.

Somit wird klar, daß Hagelstange eine Ausnahme dazu anstrebt und anders als Paul Celan sich nicht in einem besonderen Schweigen hüllen will.

Er läuft dabei die Gefahr den Depeschendienst lyrisch fortzusetzen. Es werden dann schlechte mit guten Nachrichten vermischt, so als könne dadurch Leben abermals instande gesetzt werden. Warum? Weil er nicht so sehr die politischen Verhältnisse kritisiert als sie eher einem willkürlichen Hohn aussetzt, und dann anhand der Verschütteten und deren Leiden eher durch eine mechanistische gewordene Gesellschaft zu erläutern versucht. Das wäre dann der lyrische Versuche einer metaphysischen Transzendenz der Faktoren die den Krieg erst möglich machten. Dazu gehört eben jener fatale Zusammenhang zwischen Hingebung und Leben nur als Schicksal anzusehen.

So heisst es nachdem den Verschütteten erstmals ihre Lage klar wurde, daß sie da unten im Widerspruch zu da oben jetzt in einem Bunker voller Vorräte die Zeit zu verbringen haben:

"Langsam verlöschen die Kerzen. Einer

taumelt empor; er erbricht sich. Einer

sagt: Ich will schlafen. Einer

zieht eine Photographie, die Frau und zwei Kinder,

aus seinem Soldbuch. Einer

schreit: Wir müssen hier raus! Einer

sagt: Wir sind Idioten. Der letzte steigt

schwankend auf seinen Sitz, strafft sich,

reckt seinen Arm und lallt mit

brüchigem Hohne: Heil Hitler!"

 

Zehn Kapiteln

Das Lesen des Gedichtes wird eine deutliche Struktur zu Kenntnis nehmen, denn Hagelstange unterteilt die Ballade in zehn verschiedene Kapiteln. Eindrucksvoll läutete er jedes Kapitel sinngemäß mit noch weiter zu deutenden Sätzen ein. Um das näher zu erläutern, werden die jeweils einleitenden Sätze zitiert:

I

"Fünfmal war der Frühling vergeblich gekommen" um die Zeitdauer die die Verborgenen unter Erde zu verbringen hatten, anzudeuten.

II

"Manchmal beliebt es die Katze Schicksal, Großmut zu lügen" denn die Verborgenen sterben nicht alle sofort, mit einem Schlag, sondern das Schicksal spielt mit ihnen je nach Launer und Leidenschaft wie es das Leben manchmal selber nicht fassen kann und dennoch begreifen will, aber weil alles im Staub vom Staub geschrieben steht, gibt es als Nachlese nur noch mehr Staub. Selbst die Toten werden dann statt mit Erde mit dem Mehl das im Überfluß im Vorrat übrig geblieben ist, als Ersatz für den wirklichen Staub begraben.

III

"Oben

lächelt das Land aus verweiten

Augen und wäscht sich vom Blute"

weil die Erneuerung kommt wie das einst der vom Feuer verwüstete Wald wo neues aus der Asche des alten entsteht.

IV

"Einer war da, ein Junger" will heissen der erste der unter den sechs es nicht länger unter der Erde aushaaren kann, er wird von Kindheits-Schreckenserinnerungen an die Dunkelheit heimgesucht, und stirbt ehe er wieder das Tageslicht erblicken könnte, so dann wird noch etwas deutlicher durch diesen frühzeitigen Tod.

V

"Tote sind immer im Recht. Du redest

eine Stunde an einem Faden, und schließlich

glaubst Du, alles bewiesen zu haben, -

da beginnen sie wieder zu schweigen.

Alles,

was du gesagt hast, ist widerlegt"

was demnach das Hoffnungslose belegt, oder wo es keine Widerrede gibt weil bereits abgestorben, sodann kann das Immaterielle nach Fassung des Todes gedeutet werden, insofern Hegel meinte der Tod sei das 'unbewegbare Etwas', was aber selbst dem Zwielicht die Chanze nehmen würde jemals etwas mehr Licht in eine dunkele Angelegenheit zu bringen. Darum ist es um den Zeitgeist so schlecht bestellt weil die Aufrichtigkeit fehlt und somit der Wahrheitsgehalt oftmals von einer bösartigen Polemik regelrecht begraben wird, und darum das Niemandsland Fortbestand im Land der unlebendig verbliebenen hat. Das ist weitaus mehr als Kierkegaards Deutung von einer Krankheit hin zum Tode. 

Eingehend auf dieses Kapital besagt etwas brilliantes. Denn dem Dichter gelingt ein doppelter Vergleich. Einmal wirkt da nach der Bezug zum Nürnberger Kriegsprozess wenngleich das Leben einem Kartenspiel immer ähnlicher wird, wobei der Tod die Liebe besiegt und somit die letzte Trumpfkarte im Spiel ist.

Die Figur von Benjamin, die im Kapitel davor verstorben ist aber als Toter da unten, im Bunker, stets anwesend ist, wird fortgesetzt, und zwar wenn der letzte Zeuge im Prozess aufgerufen wird. Das folgt der Einsicht in was in solch einem Schwurgericht geschieht, nämlich "Kläger, Beklagte spielen ihr Spiel. / Ein jeder hat seine Trümpfe und zieht sie." Als das erinnert an ein ähnliches Bild das ein griechischer Dichter zwischen den Kriegen von Männern die im heißen Sommer irgendwo in Athen ein Spiel absolvieren. Der Dichter bemerkt da sitzt einer unter ihnen der niemals verlieren wird, denn er ist der Tod. Am Ende ist für alle anwesenden ihre Zeit ausgelaufen. Die Uhr ticket weiter, und das Schweigen des davon gegangenen hallt weite: "bescheiden, aber behaarlich und unübersehbar."

Und dann entwickelte Hagelstange eine weitere Figur unter den Verborgenen. Es ist der Wachtmeister Wenig. Zuerst kann ein Leser ein wenig stutzen, denn Wenig ist ein seltsamer Name. So oft aber scheint besonders im Deutschen ein Bezug zwischen Name und Drama zu bestehen. So hiess ein Mathematik Professor Schreckenberger und er vermochte es durchaus Angst seinen Studenten einzujagen, die Angst wie Robert Musil es im Zöglin Törless beschrieben hat und der nicht mit der unendlichen Zahl klar kam. Die Angst vor dem Scheitern ist etwas das Bloch beschrieben hat, denn so bald etwas gelingt, verändert das die Verhältnisse doch wer will da noch die Kontinuität von Identität bewahren?

Doch Hagelstange will auf etwas besonderes hinaus mit dieser Figur des Wachmeisters Wenig. So während sie Benjamin mit Mehl als Staub begraben, fällt jener Satz der auf den gewissen Ausgang des Kartenspieles erneut Bezug nimmt, denn "der Tod sticht über die Liebe". Dabei hatte Wenig aufs Vergessen gehofft, aber jetzt, da alle Karten gezogen sind, gibt es für ihn keinen Ausweg. 

Es wird dann seine Geschichte erzählt und zwar wie er und nicht Benjamin zum Krieg kam. Er war jemand den alle zuhause schätzten weil pünktlich zum Monatsende er stets seine Schulden beglich. Doch am Ende blieb ihm nichts anderes übrig. Während die anderen sich schlafen legten, "lud (er) seine Dienstpistole und zahlte was ihm geblieben. Wenig wars, - doch der ganz Wenig. Und mehr hatte er nicht."

Es gibt diesen Volksspruch: 'er zahlte mit seinem Leben'. Es gelingt Hagelstange diesem Spruch seine verborgene Weisheit zu bergen. Voraus geht dem was geschieht wenn ein Staat nichts mehr im eigenen Haushalt hat, und deshalb zwar verlangen kann, daß alle zur allgemeinen Rechnung beitragen, aber halt einsehen muss das Kollektiv ist zahlungsunfähig geworden. Kurzum bleibt es dann jedem überlassen was er beitragen kann. Für Wenig, der immerzu Pflicht bewusst handelte, war das eindeutig zu wenig. So gab er sein Leben wie der einfache Soldat im Krieg, nur handelte es sich in diesem Falle ging es um die Begleichung einer irrtümlichen Rechnung.

Die wirkliche Rechnung deutet Hagelstange ebenfalls an. Es wurde zwar gesagt er vergleicht den Krieg mit einem Naturereignis, und sogar die zersprengten Truppen nach der Niederlage werden mit Eisschollen die im Strom des Siegers dahin schwimmen, verglichen. Aber "es schienen gradenwegs aus der riesigen Grube gestiegen" all die schweigenden Kinder und Frauen, und darunter ein paar Männer, meist Greise. Die Kolonne jener die in der Erde verschwanden laut Befehl sie dort zu begraben, sie feierten keine Wiederauferstehung, aber sie bildeten eine hartnäckige Frage nach dem Grund fürs Schweigen. Eine Antwort bereitet der Dichter mit schlichten Worten vor:

"Dieser und jener war einer, war Wenig.

Innen und Außen. Man braucht

nur die Schale zu brechen, da traf man den Kern:

würzig und mild. Verwirft man die Nüsse,

weil sie sich panzern?

War es nicht, auf dem Wege zum Bahnhof

(damals im zweiten Urlaub aus Rußland)

nahe daran, den Panzer zu sprengen,

als sie mit beiden Kindern neben ihm ging,

ihm, der gerade die dreihundert jüdischen Weiber

bei Saporoschje mit seinem Zuge

an die Erde verkauft, -

wie der Befehl es befahl? Büßte er nicht,

hier bei lebendigem Leibe mit Totem begraben,

was er in blindem Gehorsam im Lichte befehlt?

Hatte ein Schwur nicht,

- unerbittlich, wie an der Pforte des Paradieses

mit gezücktem Schwerte der Engel -

ihm die Rückkehr verwiesen in das erbarmende

Mitleid, die menschliche Regung?"

Was immerzu unterdrückt wird, sind die menschlichen Regungen: der leise Protest gegen den Befehl. Hier meinte einst Adorno die Gesellschaft befiehlt einen jeden zu lieben und die einzige Art und Weise diesen Befehl zu brechen ist zu lieben. Das Kind soll nicht mit dem Badewasser ausgeschüttet werden, lautet gleichfalls eine ähnliche Binsenweisheit. Aber Hagelstange will das Wenige nicht aufzählen denn es kommt sowohl Innen als Außen vor. Aber wichtig ist der Vergleich mit der Nuss. Wenn ein Dichter aus Pälestina schreiben kann, Israelische Soldaten haben ihr Zuhause im Panzer, dann wäre der Rat von Hagelstange gleich der Nuss solche Argumente zu finden die es vermögen doch zum Kern der Sache vorzudringen, um die Sache ganz anders zu regeln. Aber solch eine Hoffnung kann nicht blind befolgt werden. Gehbar sind nur solche Wege die frei vom Befehl sind. Zwar wird beteuert niemand will etwas erzwingen, doch die schlichte Notwendigkeit spricht hier allemal eine noch andere Sprache. Darum besteht ein Unterschied zwischen einer zwanghaften Überlebensform und einem Leben in Freiheit. Jene scheint darin zu bestehen Abstand vom Tod selber nehmen zu können, doch allerdings nur dann ist das möglich wenn Obhut nicht im Bunker, sondern in einer Befürwortung von Leben unabhängig vom Tode genommen wird. Ansonsten fällt alles der 'fallacy' - dem Trugschluss des Todes - anheim.

Hagelstanges Antwort darauf ist ebenso schlicht wie auch richtig:

"Ach, an das Jüngste Gericht

möchte man glauben: daß einstens,

wenn sich die Welt überlebt, Posaunen

oder Sirenen die Stunde verkünden, ferne

in fernerer Zeit ... Es muß wohl

einmal alles nach einem Gesetz, nach

einem Maße gemessen werden. Einmal -

aber nicht heute, da jeder,

der uns befiehlt,

seine Gebote erläßt und jeden,

der sie mißachtet, verurteilt..."

 

VI

"Denke:

Die Erde würde dir einmal

aus den Augen genommen, länger,

als sie der Schlaf dir entzieht, -

wie durchschlug es die Brust dir beim Wiedersehen

eines blühenden Zweiges!"

besagt einmal mehr das Unvorstellbare zu denken ist ähnlich schwierig wie das Höhlengleichnis von Plato so zu deuten, daß die Umkehrung als Voraussetzung von Erfahrung (Hegel) nicht gleich bedeuten würde die Flucht zurück in die Höhle und in die Finsternis, um nicht alleine dem Schreckensbild, in Wirklichkeit die Schönheit der Natur, ausgesetzt zu sein. Schließlich bedarf das Aushalten der Schönheit bedarf einer Unabhängigkeit von anderen und seit der Antike das Finden eines Auswegs von jener Welt in der die Trennung zwischen Arbeit und Lust (Adorno, Horkheimer: Dialektik der Aufklärung) aufrecht erhalten wird. Letzteres würde die Schönheit gleich den Siren einen nur in den Abgrund reissen. Umrisse des Scheiterns werden dadurch erstmals sichtbar aber erstmals muss dieses Denken ohne Bezug auf die Erde nachvollzogen werden, ja das Unvorstellbare irgendwie oder zumindest nachvollziehbar gemacht werden.

VII

"Zeit - was ist hier oben die Zeit?"

Hagelstange leitet dieses Kapital mit der Aufhebung der Zeit ein. 'Gestern' besagt so viel wie 'Heute' "Am Soundsovielten" gar nichts mehr wenn der Wecker einmal sein Leben aufgegeben hat. Vergeblich versuchen die Verschütteten irgend ein Zeitmaß danach beizu behalten, und sei es mittels den brennenden Kerzen oder beim Abschreiten des Raumes im Takt des Sekundenzählers, so daß aus Sekunden Minuten und aus Minuten Stunden, Tage, Wochen, Monate werden, aber alles ist vergeblich weil die Tag zur Nacht wird und umgekehrt. Die ZEIT wird von einer Zeit eingeholt, überholt, weggespühlt, un-meßbar gemacht, so dann laufen sie "wie eine Maus in der Mühle".

Hagelstange stellt darum erstmals einen Vergleich zwischen einer meßbaren Zeit, aufbewahrt in Zündholzschachtel, und jener die gerne in die Wälder flieht oder in verlassenen Stuben hockt, also unmeßbar zugleich vergeudbare Zeit wird, und wovon ein Zuchthaus ein Jahrtausend auf Vorrat hat. Da ist die Tageschicht, Nachtschicht, dort die Institutionen die sich um die 'Frei-Zeit' kümmern. Hier wirkt der Dichter fast lakonisch und stellt sich ein auf Zeit als Attrape ein. Doch dann geschieht dieser Einbruch als wäre das Eis auf dem zugefrorenen See doch nicht so dick, um das Gewicht von Menschen auszuhalten. Dann tritt ein ins Bewußtsein eine Zeit die keine Zeit mehr hat:

"Nichts hat mehr Zeit. Freude

kann sich nicht sammeln,

Schmerz nicht verzehren.

Worte sind Schüsse;

Gefühle Affekte,

Die Zeit sagt

heutzutage Tick-Tack

und empfiehlt sich -

bis zum nächsten Tick-Tack

und so weiter..."

Dieses Tick-Tack dauert 'unten' bis der Wecker wie gesagt sein Leben aufgibt.

Dann beschreibt Hagelstange einen der Verschütteten wie er durch den Traum zumindest zeitweise ans Licht zurückkehrt, und damit die interessante These aufstellt aus welch einer Materie ein wirklich gewordener Traum besteht, wenn nicht aus einem aufbewahrten Licht in Materie verwandelt. Er beschreibt den Traum des Tischlers. Als er erwacht, hält er die anderen an noch ehe sie aufstehn wollen, um ihnen seinen Traum zu erzählen. Es handelt sich um das Gehen über eine endlos große Wiese die gleich der Welt dennoch seltsam flach wirkt. Bezeichnenderweise geht neben dem älteren Ich ein jüngeres Ebenbild desselben Ichs, und letzterer findet zwar nicht das Ende der Wiese sondern auf der Wiese eben einen Löwenzahn mit seinem Schmuck bestehend aus kleinen Fallschirmen, um die Befruchtung seiner Art fortzusetzen. Die anderen fragen ihn ob er die Sonne gesehen, Vögel gehört habe, aber der Tischler hat leider nicht darauf geachtet und so mischt sich mit den Fragen ein Spott der kaum noch zu ertragen ist.

Möglich ist, daß Hagelstange damit eine alte Wunde berührt. Es ist der menschliche Schmerz eines jeden der das Leben liebt, und dennoch hilflos zusehen muss wie es vor den eigenen Augen zergeht, zerfliesst, zerbricht...

Bezeichnend ist wie Hagelstange die Zeit die Oben existiert, beschreibt, und dadurch andeutet was sich bereits in der Nachkriegszeit bemerkbar macht:

"Oben

strebte der Stamm in die Krone.

Bittere Früchte, die Heilkraft selber,

streute sie aus. Sie galten freilich

vielen als taub. Denn Zeit schien den meisten:

Warten auf bessere Tage, auf sicheres Schema.

Zeit war: Vergessen wollen und recht behalten.

Zeit war: Strafe, neue Verirrung, war Flüchten

aus der ZEIT in die Zeit; war Narbe,

mühsam verhelt und geschminkt.

 

Hier unten

war sie Wunde, die brannte,

täglich strömendes Blut, nicht stillbar.

Jeder Herzschlag ein müder Hammer

auf die alten Gesetzestafeln. ZEIT war

da-sein und wissen

um die schneidende Fessel und wissen,

daß sie nur tiefer schnitte; war Fallen,

endlos,

in die Schwerkraft des Schicksals."

Ein wunderbarer Vergleich zwischen unten und oben, und darum eine poetische Aufhebung des sogenannten metaphysischen Versuchs die Unterwelt als Hölle darzustellen, während oben das Streben gleich dem Baum dem Himmel galt - obwohl mit der Erde verbunden und darum noch nicht frei und unabhängig vom Schicksal selber.

 

VIII

"Wir nennen es Winter. Und meinen damit:

Atemholen des Lebens, und über Verwesung

kühles Leinen des Schnees."

 

IX

"Das Schöpfrad ließ die Eimer kreisen,

hob, Zug um Zug, in immer gleichen Takte

ein kleines Maß der dunklen Flut empor

und warf es hinter sich zurück.

Monotonie,

die Schächterin der Seelen

verrichtete ihr Handwerk stumm.

Die Opfer blieben

in ihrer Macht."

Am Ende dieses Kapitals wird das Gleiche nochmals wiederholt, aber jetzt mit einem mächtigeren Ende:

"So ließ das Schöpfrad seine Eimer kreisen,

hob Tag und Nacht in immer gleichem Takte

ein Lot der dunklen Flug empor

und warf es hinter sich,

zurück in diesen Strom, der uns

verschlingt und trägt."

Ausgehend vom Bild 'Schöpfrad', erinnert das dem Gleichnis nach wie Wasser aus dem Brunnen geschöpft wird: Eimer nach Eimer kommt voller Wasser hoch, um nach Entleerung des feuchten Elementes alsbald wieder in der Tiefe des Brunnens zu verschwinden. Dabei enthält das Ende ein anderes Gleichnis. Die neue Sage will nicht dem dunklen Strom widersprechen, dafür ist die Ballade nicht angelegt etwas anderes zu wollen als was bereits Goethe und der Pantheismus vorzeichnete. Da lautet das Gedicht von Goethe ganz einfach so:

Die Nachtigall war entfernt

Der Frühling lockt sie wieder

Nichts Neues hat sie gelernt,

Singt schöne, alte Lieder!

In diesem Pantheismus entwickelt sich die Form die soziales und auch politisches Geschehen dem Leben als solches unterwirft, ja auch demütigt, so als wäre alles unaufhaltsam wenn nicht reines Schicksal, dann der mächtige Strom der "uns verschlingt und trägt" - als leblose Leichnam, als erstarrter Körper, als ein Wesen das nur ein Gesetz kennt. Jenes Gesetz wäre die des Staubes das sich Dank des Wassers formt und im Gleichnis mit dem Blut seinen Weg sucht.

Mit anderen Worten, wenn die Verschütteten fast nicht mehr können, wenn bereits vier Tote sind, bleibt jenem einen Überlebenden ein Zwiegespräch mit dem anderen der keinen Namen hat, weil nur erkennbar als "Bürgschaft geteilten Loses". Es bleibt die Möglichkeit die Nacht als ewige Dunkelheit zu durchmessen, indem Hand in Hand Halt gesucht wird und eben in diesem Abtasten so etwas gibt wie einen 'Wärmetrost', denn "wo wir straucheln, soll einer nur den anderen halten oder ihn mit sich ziehen in den Sturz." Aber gibt es da keine Art Berufung auf eine Freiheit die den anderen loslässt, um ihn nicht mitzureissen? Hagelstange findet dazu die Antwort im Blut, also im Zustand des noch nicht Gestorbenen:

"Dazwischen aber raunte

das todbeladene Blut wie selbstvergessen:

Solang ich fließe, wenn auch keine Sonne,

kein Schimmer Licht mich trifft,

ist noch das Ende

des krausen Wegs nicht abzusehen,

dem ich entgegenwandre. Ob ich hoffe,

ob nicht, - ich werde unter Tage

durch Schrunden, Spalten und Geklüft

der dunklen Sohle weiter wandern mit der Kraft,

die jede Strömung hat. Ich habe

nur dieses als Gesetz. - "

Hier spricht nicht das Ich als Person, sondern als das Blut das im Körper gleich einem Strom fließt, und solange es fließt, Leben erhält. Es ist das physikalische Gesetz welches als Grundprinzip dargestellt wird. Doch auf dieser Basis kann auch das Selbstvergessen erneut vergessen werden, denn Blut hatte in der Hitler Zeit noch eine andere Bedeutung, so wie die aristokratisch orientierte Burschenschaft sehr bald nach dem Kriege ihr Ritual mittels der Blutbruderschaft fortzusetzen versuchen würde. Bilder sind das nicht, noch Fremde die gegen den Zaun lehnen nicht um Streit anzufangen sondern mit den Nachbarn zu plaudern. Das Wechselbild wird in solch einer neuen Sage nicht bestätigt, denn das gemeinsame Los entspricht dem Sog der in die Tiefe zieht und kaum etwas anderes aufkommen, geschweige aufatmen lassen. Denn zu schwer ist die Situation geworden, da unten im Bunker, um noch leicht zu ertragen sein, wenn überhaupt es noch ertragbar ist:

"Nun war der Tischler mit dem anderen allein.

(Der andre mit dem Tischler, sollt es heißen.)

Vier Tote wohnten nun im Raum. Das Mehl

lag wie ein Schleier zwischen ihnen,

den Lebenden, den Toten. Aber wer

besteht auf dieser Trennung, unterscheidet

die Wasser, die sich schon vermischen?"

Das Mehl wurde benutzt als Staub um die Toten zu begraben, und das mit dem Zusatz einer Ausnahme denn oben, wenn jemand stirbt, muss auch noch für den Sarg, für die Beerdigung, ja schlichtweg für den Tod bezahlt werden. Aber da unten versuchten sie nicht den Schmerz des Tischlers zu berühren. Er würde sich allenfalls ums Geld betrogen fühlen, würde ihm nicht der Auftrag erteilt einen Sarg zu zimmern. Gleichfalls das mit der Trennung als Abtrennung von noch einer anderen Welt, denn selbst wenn jemand stirbt, so ist das physikalische Ende noch lange nicht das Ende dieses Menschen. Er lebt fort in den Erinnerungen der anderen, vorausgesetzt sie setzen aufs Vergessen und löschen damit auch noch jegliche Spur des gelebten Lebens desjenigen der gegangen ist.

 

X

"Licht, das aus tausend Augen sieht."

Warum die Zahl 'tausend'? Etwas stimmt da nicht im Gedicht mit der schrecklichen Wirklichkeit überein. Schließlich war es die totalitäre Ideologie die den Spruch zu Tage förderte, der Staat müsse tausend Augen bekommen.

Heutzutage scheint für viele der Überwachungsstaat gleich Orwell noch mehr ein Stück näher der Realität gekommen zu sein.

Was aber die Verschütteten da unten durchmachten, und bis zuletzt nur noch zwei von sechs übrig blieben, das mag eben eine Vorstellung vom Leben als die Kunst des Überlebens in solch einem Überwachungsstaat verzeichnen. Manchmal sind es dann Kratzer an den Wänden die die einst lebenden hinterlassen haben, und woraus der Stoff fürs Nachdichten entstehen kann. Was das von einem Nachdenken unterscheidet, bleibt freilich eine offene Frage.

Wie gesagt, die Auseinandersetzung der Nachkriegsgeneration mit denjenigen die den Krieg durchstanden, sie war keineswegs leicht noch vorstellbar wie überhaupt ein Dialog zu beginnen war. Denn immerzu wurde erstmals die Unschuld beteuert, also auch eine Nicht-Ahnung, und kein Erschrecken darüber wenn einmal aus der Zeitentfernung nach dem Krieg betrachtet wie naiv man damals gewesen war.

Ob nun Günter Grass, der an Hitlers Endvision glaubte und dann sechzig Jahre lang schwieg statt offen über seinen Irrtum zu reden, oder Verwandte die mit ihrem Opel der Autobahn runter raßten, so als säßen sie noch immer im Pilotensitz eines Fliegers der Bomben über England abwerfen sollte, da ist einfach eine Belastung zu schwer, um einfach davon loskommen zu können.

Das Irrationale setzt sich darin fort, daß das Baden in Unschuld jeder selbstkritischen Reflexion dem Vorzug gegeben wurde, und schon war die Zeit als Hast vorgeschrieben. Nichts als Umtrieb, besonders bei jenen die sich sportlich gaben und weitaus mehr Talente hatten als jegliche Vater- und noch mehr Führerfigur, aber der sie gehorchten letzteren, indem sie sich zwanghaft dem Schicksal anpassten, um eben zu überleben. Etwas ist da verschütten gegangen, was noch nicht wieder gefunden wurde.

Resume

Noch ist nichts Neues dem entbrannt. Vergangenheit rührt sich allerdings so bald den Opfern eine Macht zugeschrieben wird. Darum käme es darauf an den besonderen Widerstand der Juden zu Kenntnis zu nehmen. Sie gingen zwar stumm in den Gasofen und flehten deshalb nicht um ihr Leben, aber damit taten sie ihren Schergen keinen Gefallen. Sie gedachten ihres Todes schweigsam, um das Unvorstellbare sichtbar zu machen und bewahrten bis zum letzten Moment die menschliche Würde. Und zeigten dadurch was jenen Schergen längst abhanden gekommen war. Elytis beschreibt eindrucksvoll diesen Unterschied in 'Axion Esti': während die Zukunft erst für die Juden began, hörte das Leben der Schergen da auf weil sie nichts taten, um Leben zu retten und vor einem sicheren Tode zu bewahren. Denn Leben besteht aus einem unsicheren Verhältnis zu einem unsicheren Tod. 

 

Hatto Fischer

Spetses 9.8.2013

Athen 6.8.2013

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