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Nachrufe auf Derrida

Suhrkamp macht zehn Jahre nachdem Derrida am 8.Oktober 2004 starb, darauf aufmerksam damals brachte 'die Zeit' eine Sonderausgabe heraus. Der Titel hiess "Philosophie des Zerbrechlichen": 

http://www.zeit.de/2004/43/Derrida/komplettansicht

Daraus ist eine Stellungsnahme zu zitieren, da sie auf das Widersprüchliche aufmerksam macht: die Beziehung zu Paul de Man. Dazu gab es in der New Yorker einmal eine wichtige Lektüre. Dieser Widerspruch folgt jener problematischen Nähe zu Nietzsche und Heidegger.

S eyla Benhabib:

"An einem Tag im Jahr 1976 sah ich Jacques Derrida zum ersten Mal. Ich war graduierte Studentin der Philosophie an der Yale University und stand in Naples PizzaRestaurant in einer Schlange hinter Derrida und Paul de Man. Ich erinnere mich an Derridas umwerfenden Anzug aus grau-violettem Samt und an seinen silbergrauen Haarschopf. In diesem Ort schien er fehl am Platz, doch er wirkte ganz ungezwungen, sprach mit Studenten, die die Nähe der beiden Meister suchten. In den siebziger und achtziger Jahren hegte ich Zweifel an den Arbeiten von Derrida. Die radikale Kritik an der westlichen Metaphysik, die deren "phallogozentrische" Voraussetzungen dekonstruierte, schien mir übertrieben und widersprüchlich. Mit seinen ständigen Beschwörungen der Kraft des "Performativen" vermied Derrida schwierige Fragen zur ethischen Bedeutung der Dekonstruktion.

Nach dem Skandal um Paul de Mans krypto-faschistische Vergangenheit wurde seine Philosophie immer stärker mit Fragen der Ethik konfrontiert. In den späten achtziger Jahren schrieb Derrida dann eine Reihe bemerkenswerter Texte. In Gesetzeskraft, Über die Freundschaft und einem kurzen, aber wunderbaren Essay The Declarations of Independence, den er anlässlich der Zweihundertjahrfeier der amerikanischen Revolution verfasste, schrieb er als ein Ultraliberaler. Er wollte zeigen, wie fragil die fundamentalen Unterscheidungen sind, auf denen jeder Liberalismus beruht – die Unterscheidung von Gesetz und Sitte, Recht und Gerechtigkeit, Naturgesetz und gesetztem Recht. Noch bevor er sich in einem Text mit dem unmöglichen Titel Die Einsprachigkeit des Anderen oder die ursprüngliche Prothese in den neunziger Jahren dem Kosmopolitismus und der prekären Lage der illegalen Einwanderer zuwandte, beschrieb Derrida den ethischen Impuls seiner Philosophie. Aufgewachsen als algerischer Jude, war er in den für ihn wichtigsten Sprachen, dem Hebräischen und dem Arabischen, gleichermaßen "sprachlos". Unfähig, in diesen Sprachen bei den anderen Gehör zu finden, entwickelte er sich zu einem Meister des Französischen. Das Gefühl für die Fragilität der Sprache und für die Schwierigkeit, "beim anderen Gehör zu finden", verließ ihn jedoch nie.

Heute, da Intoleranz und gewaltsame Konfrontation mit dem "Anderssein" um sich greifen, erinnert uns sein Werk daran, dass all dieses Sein in sich grundlegend gebrochen ist. Das ist nicht bloß eine epistemologische oder metaphysische Aussage, sondern auch eine ethisch-politische. Eindringlich legt sie uns nahe, die Heterogenität und Pluralität der Welt durch Akte spielerischer, ironischer und zuweilen frustrierend uneindeutiger Dekonstruktion anzunehmen."

Seyla Benhabib ist Professorin für Philosophie und Politische Wissenschaft an der Yale-Universität/USA. Aus dem Englischen von Karin Wördemann

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