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Die Umarmung will gelernt sein - in Erinnerung an Johannes Agnoli

 

Die Umarmung will gelernt sein

Antworte doch auf mein Gedicht!

Welches?

Jenes das die Brüder und Schwestern anspricht!

Warum?

Weil die Umarmung gelernt sein will.

Ach das! Ich dachte Du meintest jenes zur Askese.

 

Stein auf Stein, grau in grau, aber kein Felsen,

dennoch wurde dieser sinnliche Eindruck

von den Philosophen verboten. Sie sprachen

lieber sinngemäß vom Flug der Eule,

gleich einem Tragen der Weisheit nach Athen.

Doch diese Stadt, die wurde nur aus Zement erbaut.

Die Straßen lagern quer zu sich, während die Häusern

sich entlang dem Zaum der Berge auftürmen, doch keiner

spricht darüber wie dieser Verlust seit der Antike

zustande kam, es sei denn es wird gestanden Flüsse

wurden verbaut und der Kifissos nur ein Rinnsal

zum Verschleppen des Mülls bis hin zum Meer.

 

Wie dann einen Weg aus grausamen Zeiten finden?

Stets versprach die Schönheit durch ihre Stimme etwas.

So will jeder sie sehen, ihr Gesicht leicht berühren,

Durch ihre Stimme die versprochene Schönheit der Seele

finden, und mit einem Kuss auf ihre Lippen alles versiegeln,

wohl wissend ohne Liebe können sie weder Schmerzen

noch all die Lasten auf ihren Schultern lange ertragen.

Auf der Suche nach Zukunft schauen sie sich vergeblich um.

Im Schatten ihrer Selbst sehen sie dass die Schönheit sie

auf dem Weg aus Hades in der Sonne hat stehen gelassen.

 

Auch Brechstangen, gut zum Aufbrechen 

der von der Vernunft nicht gewollten Liebesbeziehungen,

gibt es auf dem Flohmarkt zu kaufen.

Nahe dem Denkmal, inmitten der Stadt,

widmet sich der Turm den vier Winden.

Und den von Graffiti bemalten Häusern.

Die Plaka, einmal bewohnt, gibt selten

etwas umsonst her. Warum auch?

 

Die Antwort verzögert sich wie ein Zug

der niemals ankommt. Ist er entgleist?

 

Was sei damit gemeint, wenn behauptet wird

die Umarmung solch einer Stadt

will gelernt sein?

Sagen doch verlassenen Kartoffelfelder

vor der Stadt

sehr wenig darüber aus

was in ihr vor sich ging

als die Mauer sie noch

in zwei Hälften trennte.

 

In Erinnerung an Johannes Agnoli

Einst wartete der Vater auf seine Tochter, doch die kam mit dem Zug erst zwölf Stunden später an als es zuvor angekündigt war. Es hatte sehr viel geschneit. Dennoch wartete er am Bahnhof Zoo wo damals die einzige Hauptbahnhofshalle für West Berlin war. Immer wieder ließ der Ansager verlauten, der Zug fahre bald ein. Aus ein, zwei Stunden wurden vier, fünf und noch mehr. Er haarte stets in der Kälte aus. Er hatte sich nicht als Südländer warm angezogen und zog sich dadurch eine starke Lungenentzündung zu.

Zwecks Gesundung kehrte er nach Italien, zu seinem Haus in den Bergen zurück. 1 Einmal dort holte er sich weder Brot vom Dorf noch ein Gedicht von Virgil zum Lesen im Wald. Auch hängte er keine Fahne wie noch vor dem Zweiten Weltkrieg aus. Gleichfalls zog er zur Gesundung kein Jogging vor. Nein. Er ging einfach in den Wald und hackte dort Holz. Zwei Jahre lang tat er das. Als er wieder beisammen war, so die Vermutung seines Arztes, kehrte er nach Berlin zurück und lehrte am Otto-Suhr Institut weiter Politische Wissenschaft. Doch dann ereilte ihn der Tod eher unerwartet. 2 Der Autor der 'Transformation der Demokratie' erlebte damit seine endgültige Transformation. Heute ist aus seinem Leben und Wirken ein stillschweigendes Archiv seiner Schriften bei der Rosa Luxemburg Stiftung zurück geblieben.

Typisch für ihn war, dass er sehr gerne Menschen provozierte. Er stellte sehr gute Fragen und vermochte es auf diese Weise das Ungefährliche ins Gefährliche zu verdrehen. Das war ganz nach dem Geschmack seiner dialektischen Denkart die sehr witzig aber scharf die sinnliche Wahrnehmung bejahte. Je komplexer der Mensch für sich und seiner Umwelt gegenüber sein würde, um so mehr die Chance den Staat zu überfordern. Das war bereits sein Inbegriff von Revolution.

Er war vor allem ein hedonistischer Humanist mit Vergangenheit. Und genoss das Leben sehr.

Um so seltsamer mutet es an, dass er vor dem Krieg ein Anhänger Mussolinis gewesen war aber seinen Beitritt zur SS im Kampf gegen die Partisanen in Jugoslavien verschwieg er gegenüber seinen Studenten. Ebenso wurde erst im nachhinein bekannt dass er von früh auf ein Bewunderer der deutschen Kultur gewesen war, unter anderem Hölderlin liebte und noch mehr im Widerspruch dazu weil er diese Kultur für eine sehr 'harte' hielt. Noch schlimmer war die Selbsttäuschung. Er dachte in seiner Jugend dass der Faschismus Freiheit bedeute. Später nannte er das nicht nur eine Jugendsünde, sondern noch mehr eine wirkliche Dummheit. Um so seltsamer den Weg den er nach dem Krieg beschritt und zum Professor für Politische Wissenschaften am Otto-Suhr Institut der Freien Universität wurde.

Die Geschichte die er den Studenten erzählte, war dass er als Soldat der italienischen Armee im Krieg gegen Rommel in Afrika in Gefangenschaft geriet. Er musste die Zeit der Gefangenschaft bis zum Hals im Sand eingebuddelt verbringen. Seitdem sagte er immer wieder seinen Studenten, sie wüssten nicht wie er was Freiheit wirklich bedeute: nicht etwas abstraktes, sondern das unmittelbare Bedürfnis sich jederzeit frei bewegen zu können. Dieses unmittelbare Verlangen nach Freiheit kennzeichnete ebenso seine stets bewegende Sprache. Er mutete seinen Studenten einiges dabei zu.

Ebenso meinte er die englische Sprache gleiche dem Stacheldraht. Verfangen in diesem Vorurteil blieb er dem analytischen Denken gegenüber skeptisch, aber er tat sich hervor als es darum ging den Bubak Nachruf zu verteidigen. Er war der einzige der achtzig verurteilten Professoren der nicht die Vergangenheit des Faschismus benutzte, um diese Tat der Veröffentlichung zu rechtfertigen. Er stellte schlicht den Richter in Frage als jemand der keine Kompetenz habe darüber zu urteilen.

Nach dem Krieg kam er nach West Deutschland, und durch die Studentenbewegung, an der er regen Anteil nahm, wurde er sozusagen nach oben gehievt d.h. sehr schnell zum Professor gemacht. Dieser Umstand unterscheidet sich von allen darauf folgenden Generationen an Studenten die ohne solch einer breiten Unterstützung dennoch nicht konform zum System studieren wollten. Sagte er doch gleich als Vorbedingung wer bei ihm promovieren wolle, der müsse ohne offizielle Unterstützung, sprich Stipendium auskommen, den mit ihm als Doktorvater würde man gleich auf die Liste zwecks Berufsverbot gesetzt werden.

Nachdem seine Lungenentzündung angeblich auskuriert war, und er nach Berlin West zurück gekehrt war, fand er sich nicht mehr so selbstverständlich wie einst zurecht. Nicht die unauffindbaren Parkplätzen vor der Wohnungstür störten ihn so sehr denn er war ohnehin kein fanatischer Autofahrer. Nein, er kam nicht mehr mit den leutseligen Menschen klar. Die waren imstande einen beim Vorübergehen flüchtig zu umarmen, um dann alsbald um die nächste Ecke zu verschwinden und immerzu taten sie so als sei nichts geschehen.

Diese Kunst des flüchtigen Umarmens verblüffte ihn. Es war zwar nicht das Einzigste, was ihn nach seiner Rückkehr überraschte, an manchen 'occäschens' (das amerikanische Englisch in West Berlin bezog sich dabei auf 'occasions') sogar erzürnte. Allerdings war er weder in Rom noch in Milano groß geworden, also verstand er nur etwas an der befreiten Frau. Darum erklärte er es zu seiner politischen Einsicht, dass die Frau sich für eine lange Zeit zurück hält, aber hat sie sich einmal entschieden 'politisch' zu werden, dann voll und ganz. Sie würde es tun im Sinne einer vollen Wut im Bauch.

Als politisch denkender Mensch konnte er sich nur dann eine qualitative Übersetzung, in der marxistisch gefärbten Sprache genannt der 'Übergang', vorstellen, wenn Spontaneität in Radikalität umschlägt, und die Studenten in der Kantine ihm zuhörten als er das in seinem kernigen, aber sehr guten Deutsch ausmalte. Denn er provozierte, wie bereits erwähnt, sehr gerne mit spitzfindigen Anmerkungen:

„Gerade erlebte er als er den Treppen runter ging wie eine Frau auf mich zukam, mich kurz anlächelte und dann mich flüchtig umarmte, als gelte das einer zarten Liebeskosung, mehr aber auch nicht. Alsbald hatte sie mich schon wieder los gelassen, auf ihren Absätzen kehrt gemacht und war den Treppen runter verschwunden noch ehe ich mich wirklich besinnen konnte.“

Die Studenten hörten zwar zu, zuckten aber nach Beenden seiner Schilderung hilflos mit den Schultern. Stark eingeschüchtert von diesem unkonventionellen Professor, stets tragend ausgebeulte Jeans, verstanden sie nicht woraus er hinaus wolle.

Er, ein Professor der Politischen Wissenschaften aus der '68 Generation, war einer der wichtigsten politischen Macher im 'argumentativen Sinne' an der Freien Universität von Berlin. Er übte einen großen Einfluss vor allem im atmosphärischen Sinne aus. Unkonventionell hieß nicht die formalen Regeln außer Acht zu lassen, aber er unterschied einen dummen von einem intelligenten Studenten darin, weil ersterer immerzu nur Argumente brachte warum er diese Aufgabe nicht lösen könne, hingegen der Zweite sich stets mittels Argumente zu helfen verstand einen Ausweg aus dem Dilemma zu finden. Ja, diese Aufgabe kann so nicht gelöst werden weil falsch gestellt. Auf solch eine Kunst des Umformulierens nicht um den Inhalt aufzugeben, aber der Form nach stringenter und nachweislich neuere Denkansätze einzubringe, das war was seine schöpferische Kraft auszeichnete. Folglich schützte er die Studenten vor dem starren Bürokratismus und vermittelte da Zuversicht wo andere den Studenten schon längst aufgegeben hätten, insofern er ohnehin scheitern würde. Bekannt war auch seine Unterscheidung zwischen Reaktionär und Revolutionär. Während der Reaktionär die Möglichkeit einer Revolution verneinte, arbeitete der Revolutionär täglich an deren Bedingung.

Es war also eine völlige Überraschung sein verdutztes Gesicht zu sehen nach dem eine weitere Frau ihn kurz aber innig umarmte ehe sie weiterlief. Es schien ihn in völlige Verlegenheit zu stürzen. Fast schien es als würde er anschließend mit seinen Armen durch die Luft rudern, doch mangels Kraft zwecks Überwindung des Gravitationsgesetzes verlor er dabei das Gleichgewicht und fiel auch manchmal zu Boden. Er fragte sich danach immer das Selbe: „Warum mich? Wie ist das zu verstehen, nein, zu begründen?“

Die Begriffslosigkeit war damals an der Universität eine Art Abkürzung für Dinge die außerhalb der politischen Reichweite der geltenden Terminologie lagen. Dazu gehörte Amerika. Aber drei Wochen nach der letzten Umarmung die er erlebt hatte, kam eine Studentin in die Kantine gerannt und ging direkt auf ihn zu. Sie hatte bei ihm in der vergangenen Woche ihre Prüfung absolviert und soeben ihre Note erfahren. Ihr Gesicht war voller Stolz, drückte es doch vollkommene Zufriedenheit und Glück aus. Es muss eine ausgezeichnete Note sein, denn sie rief ganz verzückt und zugleich so laut, dass alle in der Kantine es hörten: „Ich könnte die ganze Welt umarmen!“

Johannes Agnoli, ein entschiedener Gegner jeglicher Form einer Verallgemeinerung, schwieg dieses Mal. Möglich war, er sah ein jede Form kann, einmal analogisch gedacht, einen entsprechenden Inhalt umarmen und dadurch die Existenz von etwas bestimmten bestätigen.

Nun war aber das schon eine lange Zeit her. In 1991 trat er in den Ruhestand und starb in 2003. So aber konnte er noch eine andere Serie von Umarmungen erleben. Da waren Honnecker und Breschnew. Die Genossen fanden es nicht schwer sich den Bruder- oder war es ein Judaskuss zu geben. Und nachdem die große Umarmung der Wiedervereinigung vorüber war, galten ab dann neue Gesetze im Osten. Seitdem scheinen sich Mann und Frau noch mehr denn je zuvor zu meiden. Umarmungen in aller Öffentlichkeit finden nur noch selten statt. War es demnach eine Sprache der Gesten, die die ganze Atmosphäre während der Studentenbewegung Zeit ab 1967 einen bestimmten erotischen Unterton verlieh? Oder war die Argumentation von Agnoli so überzeugend, dass Frauen sich zutrauten durch eine schnelle Umarmung ihres meist geschätzten Professors ein öffentliches, zugleich unschuldig dennoch erotisches Bekenntnis abzugeben?

 

Trotz Berufsverbote

 

Der Schriftsteller, der Dichter, der Mechaniker, der Elektriker,

der Kugelschreiberverkäufer, der Blinde, der Weinhändler,

der Obsthändler, der Postbote, der Computerexperte, der Chauffeur,

der Denkmalputzer, der Aktensammler, der Direktor, der Penner,

der Schmarotzer, der Linkshändler, der Rechtshändler, der Penner,

der Schmarotzer, der Filmmacher, der Schüler und der Student,

sie waren alle entsetzt als eine Frau zu ihnen unerwartet kam.

Sie setzte sich zu ihnen, stand wieder auf, ging ans Fenster,

kehrte zurück zum Tisch. Dann hob sie ihre Augenbrauen an,

kniff dabei ein wenig ihre Augen zu, und schaute sie streng an,

um so um Ruhe zu bitten. Dann sagte sie mit zittriger Stimme

ein auf ihre Hand geschriebenes Gedicht auf:

„Was ist das für ein Betrug,

wo bleibt da das die im Unterschied zu der und dem das?

Neutrum ist kein Besen! Ich will mehr Unterschiede sehen!“

 

Die Schriftstellerin, die Dichterin, die Mechanikerin, die Elektrikerin,

ja, in dieser Stadt gab es welche mit ellenlangen Hosen und einer Mundart

gleich dem Meister:

„Sagte ich Dir doch die Schraube musst Du so und nicht so ansetzen,

und wenn Du es nicht gleich richtig machst, kannst Du die ganze Arbeit

nochmals von vorne anfangen!“

 

Wo bleibt also die Schriftstellerin, die Dichterin wie Inge Bachmann,

oder jene Frau die unter Haube zu schauen gleichfalls ein Auto meint,

und nicht die Schürze die sie trägt, wenn sie Brot bäckt und Kinder

zur Welt bringt, weil nach all dem Durcheinander eines gewiss ist,

statt alles in die 'der Arbeiter, die Arbeitende' zu unterteilen,

Agnoli der Form nach den Ausdruck 'die Arbeitenden' bevorzugte.

 

So kam es zur Überlegungen des 'definitiven Artikels' und deswegen in meiner Dissertation den Titel wie folgt bestimmte:

Artikulationsprobleme der Arbeitenden und die Tradition des Deutschen

Gewerkschaftsbundes.“ (DGB). Berlin: Quorum, 1987.

Es gab in Berlin ein ungeschriebenes Gesetz und galt in jedem Hinterhof, denn nicht nur 'Ruhe', sondern absolute Stille, also 'Friedhofsruhe' – Bloch konnte mit seiner Stimme diesen Unterschied wirklich betonen – sollte herrschen. Darum konnte jeder im Hinterhof von Knesebeckstraße 17 hören, als sie ihn erst anschrie, dann Teller über seinen Kopf hinweg an der Wand zerschmettern ließ, und er außerstande ihre aufgebrachte Wut aufzufangen, aus dem Haus lief und sie ihm nur noch vom vierten Stock runter rief als er schnurstracks den Hinterhof durch zum Ausgang lief: „bleibe doch endlich und werde Mensch!“

Gerne wäre er ihrer Aufforderung nachgekommen, aber ab einem Moment konnte er sich nicht mehr sprachlich oder eher argumentativ verteidigen, und so handelte er um wieder eine menschliche Sprache aus seinem Unbewusstsein hervorzuholen als sei auf der Flucht. Die kam spätestens dann wieder wenn auf der Straße, er seine Gedanken durchs Vertrauen in die Menschen ordnen ließ.

Das ging für eine Weile so hin und her. Doch nachdem sie ihre Magister Arbeit beim selben Agnoli nach einem zweiten Anlauf abgeschlossen, und er ihre Wohnung komplett gestrichen hatte, kam er ihrer Aufforderung nach, er solle doch endlich ausziehen. Aber als er ihr mitteilte, Henryk Baranowski habe ihm seine Sommerresidenz angeboten, und wo er an seiner Dissertation weiter schreiben könne, kehrte sie ihre Forderung ins Gegenteil um. Wut entbrannt nahm sie seine Kiste die voller angefertigter Manuskripte für seine Dissertation war, ging ans Fenster im vierten Stock und kippte kurzer Hand den ganzen Inhalt aus. Sämtliche Papiere flatterten in den Hinterhof hinab. Er ging runter um sie abermals aufzulesen und als die Kiste wieder voll war, trug er sie nach vorne und stellte sie neben dem Toreingang auf den breiten Gehweg. Mit einem Freund hatte er es arrangiert, dass der mit seinem Auto vorbei kommen würde, um seine Sachen in die Sommerresidenz abzutransportieren. Sie war noch immer so fassungslos über seinen plötzlichen Auszug, dass sie ebenfalls runter kam und zum Nachdruck ihrer Wut der Kiste eine heftigen Fußtritt gab. Anscheinend hat es der Dissertation aber nicht geschadet, oder vielmehr die Lüftung durchs Hinauswerfen aus dem Fenster im vierten Stock war im nachhinein gesehen ein deutlicher Beitrag sie etwas leichter zu machen. Zwar hielt noch ein wenig diese Liebe an, aber als sie nach zwei Monaten aus Griechenland zurückkehrte, kam es nur noch zu einer bedeutsamen Begegnung die das Ende besiegelte. Ihre Eifersucht war fassungslos als auch ihr Wunsch alsbald in den Süden ziehen zu wollen ein Zeichen ihrer Ungeduld. Sie wollte nicht länger warten bis er seine Dissertation fertig geschrieben hatte, dabei hatte sie seine Liebe für sie ohnehin durch eine alsbald erwiesene Untreue sabotiert. Damals kam noch einiges mehr zusammen aber das soll nicht aus dem Lebenszusammenhang einfach so heraus gerissen werden.

Zeitanalyse

Bloß die Philosophen in Frankreich, die sprachen nicht mit Verachtung über die Flucht, sondern sahen es als Mittel des Kampfes im ungleichen Krieg.

Obwohl sie wollte das er bleibt und dennoch geht, war sie lange außerstande ihre Magisterarbeit zu schreiben. Sie war reich an Empathie für andere, ja gab ihnen einen Mythos der ansteckend war, weil es die Person in einen viel größeren Bedeutungszusammenhang brachte. Sie las viel, kannte die wichtigsten Referenzen und nutzte jede Gelegenheit, um in der Nähe berühmter Personen zu sein. So suchte sie oftmals die Freundin von Ivan Illich auf. Jener aus Mexiko kommende Priester meinte der Kapitalismus sei imstande nur eine Sache zu exportieren: Transport. Er durfte sie aber nur bis zur Tür begleiten. Mit nahm sie ihn nie wenn sie zu den anderen ging.

Als es dann zur leidigen Entscheidung kam ob Abtreibung oder nicht, hielt sie sich nicht an das was zuvor vereinbart war. Bewusst waren sie das Risiko eingegangen, dass sie schwanger werden könne. Oft sind Phasen großer Anspannungen auch die fruchtbarsten. Es kommt dann alles auf einmal zusammen: das notwendige Abschließen der Magister-Arbeit zu einer ganz bestimmten Zeit, und das hieß laufend noch die Spätpost am Bahnhof Zoo kurz vor Mitternacht zu erreichen, um den Einwurf rechtzeitig zu machen; aber auch die anwachsende Spannung was dann wenn schwanger, das Werden eines Kindes zum Inbegriff eine Mutter zu werden hinzu kommt. Letztlich entschied sie sich gegen sämtlichen Rat, auch der Ärztin – sie meinte da ihre erste Schwangerschaft überhaupt, sie solle das nicht riskieren weil sie die Möglichkeit überhaupt danach noch Kinder zu bekommen, womöglich ruinierte, so kam es auch – die Abtreibung. Er meinte sie tat es fast als Akt eines Opfers für die hohen Priesterinnen der Frauenbewegung die alle den Vorsatz, 'der Bauch gehöre nur der Frau' predigten. Anschließend war sie so sehr entsetzt von der Tat, dass sie sämtliche Frauen in ihrer Umgebung davon überzeugte, und die prompt alle Kinder bekamen. Aber im Hintergrund wirkte noch mehr, so auch Polanskis Film 'Rosemary's Baby': ein schauderhafter Film, der jeder Frau Angst einzujagen vermochte, jemals ein Kind in die Welt zu bringen und dann von einer irrationalen Sekte überzeugt zu werden zwecks Fortschritt in dieser Welt wäre das einzig richtige ihr Kind zu opfern. Als sie um die Entscheidung rang, war es nicht leicht mitanzusehen wie sie hin und her gerissen war. Ängste und Wut im Bauch erzeugten in ihr eine Blockade. Seine Argumente, vorgetragen mit Hilfe von guten Freunden, zwecks Behalten des Kindes vermochten es nicht sie von der Entscheidung zugunsten der Abtreibung abzubringen. Welten danach verschoben sich. Ihre Wohnung stand quer zu der seinigen. Eine Aussicht auf ein gemeinsames Zuhause im Süden kam nicht mehr zustande obwohl sie oft nach Griechenland gemeinsam reisten, um nicht nur das Land sondern die Stellung der Frau damals, in der Antike, und heute, in der Gegenwart, zu erkunden.

Damals schien es als ob vielen es ähnlich erging. Es war als wären die Gefühle füreinander und die Zuversicht in die Zukunft verloren gegangen waren. Als Ausdruck jener Zeit war dann auch der Kongress in der Technischen Universität mit dem besagten Titel: „No Future!“ Es war der Anspruch der neuen Generation die apolitisch sein wollte, um politisch zu wirken. Im Grunde genommen war es ein Hinwegtäuschen-wollen über die eigene Wirkungslosigkeit.

Sowohl Rudi Dutschke als auch Michel Foucault waren zugegen. Typisch für Foucault: er blieb die ganze Zeit am Rande und schwieg. Er war davon überzeugt, es ist eine Kunst Räume für Diskussionen zu öffnen und das ohne jene selber zu besetzen.

Dutschke kam anschließen rüber und riet ihm dringend die Französischen Philosophen zu ignorieren; viel wichtiger war seiner Meinung nach der Inbegriff der 'Asiastischen Produktionsweise' von Marx. Dem solle er mehr Aufmerksamkeit geben, denn die anwachsende Abhängigkeit von Technologie hieße in Zukunft immer mehr einen stark zentralistischen Staat zwecks Machtausübung vor sich zu haben.

Er fuhr auf Dutschkes ehemaligen blauen Fahrrad anschließend zurück in die Knesebeckstraße. Inzwischen hatte eine Nachbarin ihm ihre Wohnung im ersten Stock, also direkt gegenüber von ihrer im vierten, angeboten, und so war er nach dem kurzen Aufenthalt in der Sommerresidenz mit dem schönen Schaukelpferd nach Charlottenburg zurück gekehrt. Manchmal sah er wie sie den Hinterhof durchquerte. Er stand dann am Küchenfenster und wusch ab. Oder sie lud einen gemeinsamen Freund zu sich ein, nicht aber ihn. Das schmerzte ihn einfach so sehr, dass er eines Abends einfach rauf lief und an der Tür donnerte. Der besagte Freund machte sich sofort aus dem Staube.

Rückblick

Eine anscheinend ausweglose Situation ist meistens beides: die furchtbarste, zugleich aber auch die fruchtbarste. Selten geschieht das Richtige im wahren Augenblick der Liebe. Und nur selten passiert das, was dennoch leicht kostenlos gegeben werden kann: eine Umarmung.

Diese Versöhnung kommt aber nie, denn bedingungslos müssen erst sämtliche Zechen gezahlt werden. Der Schuldenberg ist einfach inzwischen allzu groß geworden. Folglich sagt keiner in solch einem entscheidenden Augenblick: „lieber als aufs Ganze zu gehen, doch noch ein Entgegenkommen zuzulassen!“ Die gemeinsam erlebte Zeit verbindet im nachhinein immer noch, aber dann nur noch als schmerzhafte Erinnerung, bewusst das Leben muss auch ohne sie weiter gehen. Erst nachdem er seine Dissertation fertig hatte, ging er sofort nach Athen und stieg auf dem Philopapa, dem Berg direkt gegenüber der Akropolis, und weinte zum ersten Male über diesen persönlichen Verlust. Sie war seine wirklich erste Liebe gewesen. Den Ort den er aufsuchte, um frei weinen zu können. Wissend um ihre Liebe für Griechenland und in Erinnerung an seine erste Ankunft in Athen in 1966, denn damals brachte sein Onkel ihn direkt zu dieser Stelle, weil noch früh am Morgen die Akropolis noch nicht geöffnet hatte, wollte er mir diesen ersten Eindruck vermitteln. Solche Momente sind unvergessliche Augenblicke.

Danach trägt nur ein Teil die ganze Last, während all anderen Teile dazu schweigen. So kommt es dass der linke Arm schmerzt und der rechte Arm das nun fertige Manuskript fassungslos wie ein eingesperrter Raubvogel umklammert, fassungslos weil statt ein Stück Fleisch bloß Papier!

Passende Wörter sind Mangelware in solchen Momenten. Mehr als das Brot kosten sie 'unsichtbar' sehr viel mehr Aufwand um verstanden zu sein. Gleich ihrer Bleibe die ihn erschütterte als er zum ersten Male ihre Wohnung im vierten Stock betrat. Es war kein vom Rauch verhangene Bude, doch die Matratze auf dem Boden sagte ihm sofort hier wird spartanisch gelebt. Zwecks Licht hing nur eine nackte Glühbirne wie im Picassos Guernica-Bild ganz dicht oben, nahe der Decke. Das sagte ihm solch eine Ökonomie hinterlässt Atemnot. Es huschen zwar keine Ratten umher, noch nicht, und es spielt keiner Saxophone nebenan - das bloß im Otto Dix Bild. Aber die Atmosphäre in Berlin 1978-80 erhielt dadurch einen Nachschub aus jener Zeit des Expressionismus. Er zeigte wie Lügen die Gesichter der Menschen in der Stadt strafte. Muskelsehnen die im Gesicht angespannt werden, wollen damit etwas besagen, nämlich es wird der Befehl gebrüllt und so rüstet geistig eine ganze Gesellschaft um. Nicht ein sanfter Ton soll sprachlich damit angeschlagen werden, denn die Befangenheit nimmt eher zu wenn zwar kein Kind mehr schreit, aber der wunde Schrei aus der Vergangenheit nach wie vor ertönt und zugleich alle einschüchtert. Es handelt sich dann oftmals um imaginäre Töne der noch nicht voll ausgemalten Gedanken an die ehemalige Schulzeit oder wann der Vater zum ersten Male einen anschrie. Die so verwundete Seele kann ab dann gewisse Töne nicht mehr hören.

Selten ist so etwas in der Kirche zu hören. Dort murmelt der Priester nur leise runter das Gebet zum Abendmahl; bei der alten Frau umrahmt der Rosenkranz ihre zittrigen Hände.

Bei ihr zuhause lag wenig, sehr wenig auf dem Tisch ausgebreitet. Dazu fehlte es an Geld. Manchmal halfen die Eßpackete ihrer Mutter über magerne Zeiten hinweg. Und außerdem wurden Fernsehfilme dazu genutzt, den Hunger nach Leben zu verdrängen.

Zeitweise gelingt das wenn 'Bonnie und Clyde' gezeigt wird: Schüsse fallen, Autos prallen gegen einander auf und elegante Frauen auf hohen Absätzen treten neben den Schwimmbädern auf, um die badenden, weil reiche Männer zu necken. All das flüsterten die Filme Reklame-ähnlich der armen Studentin ein, und suggerierten immerzu es gäbe die begehrte Welt. Allerdings wird dann nicht gesagt, dass es sich dabei um eine andere Begierde der Reichen nach noch mehr Reichtum handelt, und darum wird die Lust auf Freiheit alsbald vergehen, wenn das unmittelbare, ja eigene armselige Leben anscheinend zu nichts anderen Wert ist als verneint zu werden.

Seine fragenden Augen schauten dann nicht mehr direkt zu, als es dann so weit war. Gemeint sei ihr Abschied vom bisherigen Leben in einer armseling Wohnung und der Wechsel hin zu einem Mann der ihr das Leben im Reichtum versprach. Aber zuvor hatte er alles mitbekommen, auch als sie endlich spät nach Hause kam und wieder sich selber im Vergleich zu anderen Frauen in solch einer trostlosen Wohnung sah. Sie wollte dieses Elend loswerden, nicht mehr auf dem Boden weinen müssen, doch wissend das wird immer ihr Schicksal sein, fing sie an vom teuren Sofa zu träumen. Wenn schon dann wollte sich nicht auf dem Boden, sondern auf solch einem Sofa weinen. Das war ihr Traum vom Aufstieg. Sie hatte ja erst ohne Abschluss sich auf Physiotherapeutin eingelassen, machte dann aber über den zweiten Bildungsweg das Begabten-Arbitur und fing dann mit dem Studium der Politischen Wissenschaft am Otto Suhr Institut an.

Ein kleiner Unterschied gibt es wenn die Beziehungskrise sich zuspitzt. Scharfe Worte werden nur noch gesagt. Sie verletzen und sind zugleich dumm weil sie höchstens die eigene Hilflosigkeit preis geben. Und dies mit einer Berechnung auf einen Zugewinn für die eigene Position. Doch will der andere nicht mehr Anteil daran nehmen, verlieren beide. Sie hören auf miteinander zu sprechen und das schon lange ehe sie sich endlich trennen.

Da schlägt Gold aufs Holz, geht allzu viel Butter kaputt und wird das Schiff zum Untergang des Selbst. Zurück bleibt am Strand die Gitarre und angeschwemmtes Holz: 'drift wood' auf Englisch. Es flötet jemand in der Fußgängerzone ganz vorsichtig über einen leeren Hut hinweg, der vor seinen Füssen liegt, die Melodien aus Simon & Garfunkels Lied genannt 'Bridge over troubled water'. Die Melancholie darin verweist auf Bilder von Cezanne. Er lässt einen Teich mit Blättern übersät zu einem Tummel aus grün und blau werden. Dagegen besteht besonders nach ihrem Abgang die Stadtlandschaft nur noch aus grau.

Auf dem Dachboden gab es eine Hängematte. Darin zu lesen vor dem Einschlafen kann ein Trost sein. So kam es auch dazu, dass der Musikstudent eines Abends rauf kam und anfing zu weinen. Er hatte nicht seine Prüfung auf der Musikhochschule bestanden. Aus der Traum. Was wird der Vater und erst recht die Mutter sagen? fragte er sich. Ihm wurde nachgesagt, er sei allzu oft allein unterwegs gewesen, doch wie kann das sein Scheitern im Exam erklären? Hängen doch unsere Antworten und Annahmen von der Sozialisierung ab denn ohne Gefühl für andere Menschen bleiben oftmals eigenständige Aussagen einfach unverstanden.

Gleiche Bedingungen gibt es nicht für jeden. Manche müssen sich durch mausern, andere können es und so bleibt bestehen dieser Unterschied wie zwischen Tag und Nacht. Na, übertreibe nicht so viel, heißt es dann sanft mutig vom anderen Nachbarn der bereits seit zehn Jahren arbeitet und nur die Volksschule besucht hat.

All das mag dann nicht sehr viel sein. Gemeint sei diese Geschichte über das Umarmen das gelernt sein will! Aber im Anblick des treibenden Lebens, gleich den vom dahin fließenden Bach mitgenommenen Herbstblättern, besagt die wahrgenommenen Unterschiede in der Geschwindigkeit vorbei ziehender Gestalten und Gegenstände, das alles mal kleiner, mal größer sein kann. Es kommt auf den Wind und den Erinnerungen an.

Da seufzte ein ernst drein blickender Mann auf. Er war dabei das Buch 'JAHRESTAGE' von Uwe Johnson zu lesen. Es beginnt im August 1967 und endet im August 1968, also zu jenem Zeitpunkt als die Russen in Prag einmarschierten. Er war drei Tage zuvor von Prag per Anhalter nach West Deutschland zurück gekehrt und hörte vom Einmarsch als er sich auf dem Weg durch Schweden Richtung Stockholm befand. Die Leute hielten an und stiegen aus ihren Autos, um sich gegenseitig zu umarmen. Jeder weinte und jeder versuchte den anderen zu trösten. Der Verlust des Prager Frühlings war ein sehr großer, galt er doch dem Versuch dem Sozialismus ein menschliches Gesicht zu geben, und darum den einfachen Menschen die Freiheit von einer anonymen bürokratischen Diktatur.

Damals wurde alsbald Sibylle Plogstedt in Prag verhaftet. Später bemühte sich Agnoli und seine Frau Barbara sie aus dem Gefängnis zu holen. Jener Prager Frühling fing an nicht nur mit dem Schriftsteller-Kongress zu Kafka, sondern bereits mit was Pier Paolo Pasolini als die 'Sprache der Haare' beschrieben hatte. Die Jugend ließ nicht nur ihre Haare lang werden, sondern sie saßen einfach da und ließen ihre Haare gegenüber den verblüfften Bürgern sprechen.

Schreiben aus der damaligen Zeit war fast unmöglich, doch die vor dem Einmarsch noch abgehaltenen Bürgerversammlungen, sie wollten drei wichtige Forderungen erfüllt bekommen: 1) Abschaffung der Gemeinpolizei; 2) freie Wahlen; und 3) etwas mit der Jugend anzufangen. Die Versammelten waren um deren Zukunft besorgt.

Zurück zu diesem Mann der Uwe Johnsons 'Jahrestage' las. Er seufzte auf weil ihm durchs Lesen eigene Erinnerungen an jene Zeiten nicht nur bewusst wurden, sondern er spürte noch stärker wie sie einfach dahin schwanden, gleich jenen Blättern im Bach.

Eine Stelle im Buch ließ ihn nicht los. Immer wieder kehrte er von selbst zu dieser Stelle zurück und las erneut wie Anita das Umarmen verlernt hatte. Es geschah in einem schmutzigen Haus nahe der Karl-Marx Straße in Neuköln. Die Stelle fing an mit einer etwas seltsam anmutenden Beschreibung:

Zwischen Bett und Schrank war eben noch Raum zum Aufbocken eines Bügelbrettes, die Liegestatt für den Gast.“

Laut dieser Geschichte war Anita einmal vergewaltigt worden als sie kaum vierzehn Jahre zählte. Lange schwieg sie darüber, doch als sie zur ärztlichen Untersuchung musste, stellte sich heraus sie hatte sich damals eine Geschlechtskrankheit zugezogen. Ein jeder gab ihr die Schuld, weil ab dann es ihr versagt blieb jemals ein eigenes Kind zu bekommen. Da gab es kein Nachsehen. Das Opfer hat immer schuld. Die Leute meinten es bitter böse mit ihr und behaupteten sie hätte besser aufpassen müssen, das so etwas nicht passiert.

Als Anita die Umarmung lernte, also ihr Misstrauen den Männern gegenüber endlich hat abbauen können, war sie bereits dem Osten entflohen und sah wie die anderen das im Westen machten: mit den Amerikanern und den anderen Siegermächten, und das für Photos die am nächsten Tag in den Zeitungen zwecks Dokumentation der guten Deutsch-Amerikanischen Freundschaftsverhältnisse zu sehen waren. Im Unterschied zur offiziellen Umarmung mit Bruderkuss im Osten, sah sie wie der USA General einen kleinen Kuss auf die Wange bekam und mit Blumenstrauß im Arm alle sich lächelnd der Kamera stellten. Erst danach kam es dann schnell noch zu einer Umarmung, und trotz der Warnung, 'passt auf die Blumen auf', zu spät ums Unglück zu vermeiden. So wurden die Blumen zwar herzlichst dennoch fest zugedrückt und platt gemacht als die Körper sich für einen kurzen Augenblick anschmiegten. Das war der informelle Teil von der die Kamera des Reporters nichts mit bekommen sollte. Zumindest so schien es zunächst.

Seitdem sind Jahre verflogen. Im Vergleich zu damals scheint heute eine viel größere Finsternis zu geben. Kein imaginäres Licht in solch einer Verdunkelung der Aussicht auf Liebe. Die politische Aufklärung der Studentenzeit hatte wieder einmal versagt. Deswegen ist die Milchstraße, das große Wunder, wenn nicht unsichtbar, dann schlicht in Vergessenheit geraten. Es fliegen stattdessen Satelliten durchs Universum und wie die Sputnicks blinken sie kurz auf, nicht aber in weiter Ferne, ja noch immer Lichtjahre durchquerend, die Sterne am stetigen Nachthimmel.

Die Straßen sind voller geworden. Oft erstreckt sich der Stau bis zu drei Kilometern und noch mehr zurück. Das mag nicht nur daran liegen wie lange die Ampel auf Rot geschaltet bleibt. Denn der Stau ist zum modernen Phänomen geworden. Nichts bewegt sich mehr. Stillstand. Fluche. Zu spät. Die Gesellschaft hat sich vom Auto als Fortbewegungsvehikel zu sehr abhängig gemacht. Statt Umarmungen gibt es bloß viele Umleitungen bis am nächsten Tag erneut das Selbe passiert, so als würde diese Gesellschaft es niemals lernen sich anders zu koordinieren, um zusammen zu kommen und auseinander zu gehen. Die Heimkehrer gleichen den Ausziehern. Einmal in diesem Widerspruch verfangen träumen viele vom Urlaub, vom Schwimmen am Strand in Hawai. Es bleibt aber bei dieser Doppelmoral: hier die der Arbeit, da im Urlaub wenn es mal erlaubt ist die Sau in einem herauszulassen. Neben Mücken stört das dann anscheinend niemanden. So ganz egal wo einer hin langt wenn die Bedienung ins Zimmer kommt, kein Wunder wenn diese neuen Touristen nichts anderes zu sehen bekommt als verlegene Gesichtsausdrücke. Keiner will sich mit dem groß aufspielenden Kunden anlegen. So spiegelt sich in den unbegrenzten Zumutungen eher die große Unverstandenheit gegenüber der Umarmung die noch gelernt sein will, aber niemand auf der Schule lernt und wie gesehen auch an der Universität nicht verständlich genug weiter vermittelt wird.

Dennoch besteht die stille Hoffnung eines Tages wirklich aus Liebe umarmt zu werden. Ansonsten steht zu befürchten sie verkümmere immer mehr zu einer symbolhaften Gestik, nicht mehr!

Leider haben insbesondere die Erwachsene die Umarmung verlernt. Jegliche körperliche Berührung wird vermieden. Bloß nicht dem anderen um den Hals fallen. Das würde außer Kopfschmerzen Peinlichkeiten verursachen. So gibt es anscheinend keine Gestik der Wärme und der Freude mehr, um diese simple Tatsache zu unterstreichen. Denn wenn komplexe Wörter ihr Ziel verfehlen, dann hilft in den meisten Fällen doch eine simple Umarmung. Aber die Ideologie der Einfachheit als Gegenteil zur komplexen Welt hat selbst diese Perversion einer ansonsten einfach zu verstehenden Gestik zustande gebracht. Heute kann keine Umarmung geschehen ohne das dies gleich einem Wortbruch, also einem Verrat der Zeit gewertet wird. Seit der Lebensdrang nach anderen Ufern, Städten, Schultern, Wohnungen usw. sich auf die Einsicht eingelassen hat, alles was dazu nötig sei wäre 'to keep cool distance', hat sich diese Kälte eingeschlichen.

So war bloß der Mann entspannt als er beim Lesen des Buches mit dem Titel 'Jahrestage' von Uwe Johnson zu jener Stelle kam, wo Anita endlich in New York lernte die Umarmung zu geniessen.

 

Hatto Fischer

Erste Fassung: Athen 7.2.1992

Zweite Fassung: Athen Juli 2014

 

Fussnoten:

1San Quirico di Moriano bei Lucca

2Er starb am 4. Mai 2003

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