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Zeichen der Zeit - Hatto Fischer

Anmerkungen zu Werner Meißners „ Philosophie und Politik in China“

Selten genug sind politische Erklärungen des chinesischen Denkens. Umso interessanter, wenn sie sich, wie jetzt der Fall bei Werner Meißners jüngst erschienenem Buch „Philosophie und Politik in China“, auf die Herausbildung des parteipolitischen Denkens chinesischer Kommunisten beziehen. Das Buch stellt zum ersten Male in deutscher Sprache Texte, dazu aus den dreißiger Jahre vor. Damals lebte in China eine Kontroverse über den 'dialektischen Materialismus' auf.

Für Werner Meißner schienen die Texte zunächst schablonenhaft und tot. Ein Mangel an logisch-wissenschaftlichen Denken schien zu bestimmen. Sie waren außerdem nicht genau, was die Wiedergabe der europäischen Quellen betraf. Immer wieder fühlte er sich beim Lesen der Texte enttäuscht über das theoretische Niveau. Anfangs hielt er seine Meinung aus Höflichkeit gegenüber einer fremden Kultur zurück. Doch dann begann er einen Unterschied zwischen seiner europäischen Lesart philosophischer Begriffe und dem was die chinesischen Theoretiker in die Begriffe hineinsahen, zu bemerken.

Er stellte sich plötzlich die Frage: „Wenn die chinesischen Begriffe 'Materialismus', 'Idealismus', 'Objektivität' usw. einen anderen Sinn als den in der westlichen Philosophie haben, wie und wo lässt sich dieser ermitteln?“

Die Antwort, die das Buch darauf gibt, ist Aufschluss reich, was das chinesische Denken und darüber hinaus die besondere Beziehung zwischen „Philosophie und Politik“ in China betrifft. Werner Meißner leistet nämlich eine „doppelte“ Übersetzungsarbeit: aus dem Chinesischen ins Deutsche und aus einer „Zeichen- und Symbolsprache“ in eine politische Lexikographie.

Letzteres ist die Grundthese des Buches: die scheinbar belanglosen Zusammenhänge zwischen den Zeichen der Texte beziehen sich auf politische Konflikte, die erst in analogen Denkstrukturen als eine „abgerundete“ Position Zuordnung zur ganzen Entwicklung der KP China erfahren. Eie „analoge Entsprechung zum politischen Konflikt“ bedeutet, dass die in den Texten verwendeten Zeichen nichts mit dem Inhalt der politische Auseinandersetzung zu tun haben, aber die Beziehung zwischen den Zeichen „analog“ dazu verläuft.

Von Interesse ist es darum, was chinesische Theoretiker der Kontroverse um den „dialektischen Materialismus“ in der Sowjetunion entnahmen, und entsprechend ihren Vorstellungen der Philosophie auf China übertrugen. Bleibt es z.B. beim unversöhnlichen Gegensatz zwischen Geist und Materie, dürfte, so die politische Deutung Werner Meißners, die Frage der „Einheitsfront“ noch als ungeklärt betrachtet werden, denn die Begriffe bzw. entsprechende Zeichen im Chinesischen für Geist und Materie standen respektiv für die Kumonintang und für die KP China. Nachdem es ihm gelang, die Texte auf solch eine Weise zu entschlüsseln, war er plötzlich von dieser Art der Kommunikation fasziniert, weil sie den chinesischen Theoretikern die Möglichkeit bot, „ausführlich über einen Gegenstand zu diskutiere, ohne ihn auch nur einmal beim Namen zu nennen.“

 

Den Sack schlagen, den Esel meinen“

Gründe für eine verschlüsselte Sprache lagen in der „Brisanz der Entwicklung“ in den dreißiger Jahren in China. Das spiegelt sich in den Texten wieder. Die KP China und ihre Theoretiker mussten bei dieser „Gratwanderung sowohl die Komintern (Stalin herrschte in Moskau und seine Vertreter in China verfolgten eine in den Augen Maos verhängnisvolle Strategie gegenüber der Armee der Nationalchinesen – statt des Guerillakrieges wurde ein verhängnisvoller Frontstellungskrieg angestrebt) als auch die Koumintang über die konkreten Absichten nach Möglichkeit im Unklaren lassen.“

„So entstand eine Sprache, in der die eigentlichen Absichten in Formulierungen wie 'alles durch die Einheitsfront', 'Zusammenschluss als auch Kampf' und 'Unabhängigkeit' und 'Selbständigkeit' gekleidet wurde, ohne dass eine konkrete Bestimmung ihrer Inhalte gegeben wurde. Die Situation verbot konkrete Aussagen über die Ziele gegenüber beiden Seiten, sollten diese Ziele nicht gefährdet werden. Die Diskussion über die Einheitsfronttaktik fand daher in einer für den Außenstehenden schwer fassbaren sprachlichen Grauzone statt, in der nur die Richtung, nicht aber das Ziel erkennbar war.“

Mit anderen Worten, obwohl die Texte, die philosophische Kontroverse um den 'dialektischen Materialismus' behandelten, bezogen sie sich auf parteipolitische Auseinandersetzungen, Mao war für zwei Jahre dem Zentrum der Macht entfernt gewesen. Stattdessen hatte Stalins Kominternvertreter, Otto Braun, das Sagen. Erst als die rote Armee von Maos Guerilla-Taktik abrückte, große Verluste hat hinnehmen müssen, und außerdem durch die Blockhäuser-Einkreisungsmethode des von Hitler entsandten Militärberaters für Chiang kai-shenks Feldzug gegen die „roten Banditen“ gezwungen war, die erste Sowjetrepublik in China zu verlassen und sich auf den „Langen Marsch“ zu begeben, um überhaupt einer totalen Vernichtung zu entrinnen, kehrte Mao an die Macht zurück.

Das wichtige Treffen in Zunyi war durch eine „Verschwörung der Sänfte“ vorbereitet worden. Anschließend gelang es der Roten Armee in den Norden zu entkommen. Alsbald stellte sich die Frage, wie der drohenden Invasion durch die Japaner zu begegnen sei. Stalin wollte von der KP China, daß sie sich in die „Einheitsfront“ mit Chiang kai-shek einordnete, auch dann., wenn es die Auflösung der Roten Armee und damit der KP China bedeuten würde. Stalin wollte auf jeden Fall ein vereintes China, welches stark genug war, die Japaner davon abzuhalten, dass sie neben Hitlers Angriff auf die Sowjet Union eine zweite Front öffnen. Weltpolitische Interessen der Sowjetunion hatten allemal Vorrang, entsprechend sah die Komintern-Politik damals nicht nur in China, sondern auch in sämtlichen anderen europäischen Ländern aus. Jeder innerhalb der Partei musste also aufpassen, nicht etwas Falsches zu sagen, weil das die eigene Vernichtung bedeuten könnte. Säuberungen innerhalb der KP China gab es genug. Niemand wollte also in Ungnade fallen.

Zur Übersetzung der Texte der chinesischen Theoretiker entwickelte Werner Meißner eine Art politische Lexikographie, um die ganze Kontroverse zu entschlüsseln. Es ist vermutlich einer der wertvollsten Beiträge zur Sinologie in letzter Zeit.

Die chinesischen Zeichen, ohnehin schwer zu entschlüsseln – der Sinologe Franz Kuhn nannte sie die „geistige Mauer“ - ergeben so von dem politischen Konflikt her interpretiert, zuordbare Positionen. Daraus entwickelten ich z.B. vier bestimmte Zeichen für verschiedene „Einheitsfront“-Möglichkeiten:

  1. tui-tengk'an-tai – zwei sich gegenüberstehende Dinge als gleichberechtigt betrachten

  2. fen-ch'langerhchich – abgrenzen und (getrennt) herrschen

  3. er-yüan lun – Dualismus

  4. che-chung chui – Eklektizismus und Kompromißlertum

Die vier Zeichen ergaben sich aus Maos Konflikt mit Verneinern der „Einheitsfront“ bzw. Befürwortern, aber unter totaler Auflösung der Roten Armee. Das erste Zeichen bezieht sich auf Befürworter der Einheitsfront, die nicht bereit waren, die Rote Armee als eigenständige Einheit aufzulösen – die Gleichberechtigung zwischen der KP China und der Kuomintang war damit gemeint. Diese Position war wiederum eine Voraussetzung das Zeichen für „Negation“, oftmals in der Kontroverse um den „dialektischen Materialismus“ verwendet, politisch zu verstehen: den Gegner „aufsaugen“, um ihn letztlich „zu vernichten.“

Das zu entschlüsselte Zeichen gibt genau die Taktik Maos gegenüber der Kuomintang wieder: mit ihrem antijapanischen Flügel zusammenarbeiten und für die Zeit nach dem Krieg mit Japan bereits die Positionen für eine Vernichtung der Nationalchinesen vorzubereiten. Yeh, einer der pro-Kuomintang Theoretiker, interpretierte dagegen die „Negation“ als Einstellung der Kämpfe, um friedlich gegen die Japaner vorzugehen, beide Parteien, so seine verschlüsselte Sprache der Philosophie, sollten darauf verzichten, den anderen vernichten zu wollen. Die Kontroverse „Geist“ und „Materie“ erfährt damit eine eminent politische Entschlüsselung.

 

Das analoge Denken der Chinesen

Werner Meißner beschreibt die Übersetzungsarbeit chinesischer Theoretiker als einen mühevollen Prozess, weil sie stets für den philosophischen Begriff erstmals das entsprechende Zeichen dafür finden mussten. In einem sehr aufschlussreichen Schlusskapitel entwickelt er Gründe dafür: die Abwesenheit eines Aristotelischen Logiksystemes, und der Wunsch sich auf abgerundete Positionen jeweils zurückziehen zu können, prägt das chinesische Denken.

Damit wird „Rückzug“ nicht mehr diffamierbar sein, sondern beinhaltet eine Voraussetzung zum Angriff. Die Qualität der Herangehensweise ist entscheidend, und der Zeitmoment sowohl der Veröffentlichung als auch der Konfrontation mit der Macht. Das öffnet das chinesische Denken zur Frage wie ist der Anschluss an das zwanzigste Jahrhundert zu finden, um nicht den Zugang zum einundzwanzigsten Jahrhundert zu versäumen?

Entsprechend diesem „analogen Denken“ wählen die Theoretiker für ihre Veröffentlichungen Titel wie z.B. „Ein Tisch hat vier Beine oder vom Widerspruch zum Gegensatz“ oder „Bericht über eine Reise in die Spitze des Kuhhorns“. Letztere Geschichte schrieb Ai su-ch', einer der wichtigsten Theoretiker Chinas und Befürworters Maos Positionen. Der Reisebericht bezieht sich gleichzeitig auf die Beschaffenheit der Materie, sprich Zustand der KP China, und der Gefahr einer politischen Sackgasse, in die sie sich hineinbegeben würde, falls sie blind Vorstellungen der Komintern von Politik und Taktik folgen würde. Es handelt sich dabei immer um die strittige Frage: soll die Philosophie durch die Wissenschaft, sprich die KP China durch die Politik er Komintern ersetzt werden?

Wenn es zur „Aufhebung der Philosophie“ in der Sowjetunion unter Stalin gekommen ist, dann sehen die chinesischen Theoretiker darin eine Gefahr für die Zukunft. Diese ist eine Frage der Philosophie. Nur die Philosophie lässt zukünftige Entwicklungen, die noch nicht empirisch entschieden sind, antizipieren und Position dazu beziehen.

Wichtig ist da Werner Meißners Erläuterung: „Ob man die Beziehung zwischen zwei gegensätzliche Seiten einer Sache, gleich um welche es sich handelt, als Unterschied oder als Widerspruch begreift, kann für die gesellschaftliche Entwicklung von großer Bedeutung sein.“ Analog zur These von Stegmüller, ein Definitiv-Artikel in einem Vertrag kann bereits entscheidend die politische Anschauung und damit den Inhalt einer Handlung vorwegnehmen bzw. verändern, gehen die chinesischen Theoretiker philosophisch vor, um damit politische Position zu beziehen.

Es ist das Verdienst von Werner Meißner, das erkannt und klar argumentierend heraus gearbeitet zu haben.

Politische Relevanz

Von grundsätzlicher Relevanz für das Verständnis des chinesischen Weges dürfte sein, dass der KP China nicht einseitig die Formel 'Einheit' für sich verwenden konnte. Der chinesische Weg hin zur Revolution und zur Demokratie (als Koalition verschiedener Kräfte) wird heute von Deng geprägt. Mao holte ihn aus der Verbannung während der Kulturrevolution, nachdem der Diplomat Zhouen-lai gestorben war, denn dieser Mann sei eine „Nadel in Watte“ gepackt, sein Denken sei scharf und zart zugleich. Mit anderen Worten, das „abgerundete Denken“ verwirklicht sich in der Politik dieses Nachfolgers Maos un geht damit eine von der Sowjetunion unabhängige Weg, wie er bereits in den dreißiger Jahren von den Theoretikern ausfindet gemacht wurde.

Interessant ist in diesem Zusammenhang Werner Meißners Untersuchung am Ende seines Buches von Maos Schriften z.B. „Über den Widerspruch“. Er kommt zum Schluss, dass es sich praktisch um eine Kopie des Theoretikers Ai su-ch'i handelt. Die Verbindung zu der „Kontroverse über den dialektischen Materialismus“ ist damit hergestellt. Es zeigt de Weg in die Unabhängigkeit auf, weil das verblüffende daran, so Werner Meißner, ist, dass die Chinesen es verstanden, Stalin mit seinen eigenen „geistigen Waffen“ zu schlagen, um so sich eine unabhängige Position zu sichern.

Zur heutigen Zeit bemerkt Werner Meißner kritisch, es gäbe nach wie vor in China ein starres ideologisches Gerüst, das Intellektuelle daran hindern würde, ihr Denken rational zu entfalten. Gleichzeitig entspräche das Denken in „Analogie“ und in Abwesenheit eines logischen Deduzieren einem auf traditionelle Bahnen gelenkten Denken. Zur Absicherung der Herrschaft und zur Legitimation der Macht würde die KP China ebenfalls alles in „gut“ und „böse“ aufteilen. Diese grobe Vereinfachung wirklicher Verhältnisse ist zu verstehen als Methode von Herrschaft überhaupt. Die Partei sichert sich dadurch den Zugriff auf die den chinesischen Zeichen innewohnende „mythische“ Kraft.

Das zeige sich z.B. bei Hinrichtungen: der Name des Verurteilten wird symbolisch durchgestrichen, sein anschließender physischer Tod erscheint dann als nahezu belanglos.

Übertragen auf europäische Verhältnisse, so wäre es durchaus denkbar „Philosophie u Politik“ z.B. bei Hegel unter diesem Gesichtspunkt einer politischen Lexikographie zu interpretieren. Er ist außerdem Kennzeichen vor allem von linken Debatten, dass stets über Dinge gestritten wird, ohne jedoch sie direkt beim Namen zu nennen. Im Falle einer zukünftigen Grünen-Stiftung wird z.B. nur vom Modell, nicht aber vom Inhalt gesprochen. Nur den Insidern ist diese Symbolik vertraut, weil jedes Modell sich auf besondere parteiinterne Positionen und somit Konflikte bezieht. Und Kennzeichen der Grünen Debatte bezüglich einer möglichen Koalition mit den Sozialdemokraten war bislang die Sorge um einen Verlust eigener Identität innerhalb solch einer Koalition.

Die chinesische Antwort darauf, und darum der wertvolle Beitrag von Werner Meißner ist, nicht die Position des „sowohl als auch“ zu beziehen. Der Weg der Revolution bedarf der lebendigen Zeichen, die sich tatsächlich auf die entscheidende Konflikte in der Politik beziehen, und darum erstmals auf philosophischer Ebene als „Zeichen der Zeit“ erkannt un entsprechend ihrer Bedeutung für die Zukunft begriffen werden müssen.

 

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Werner Meißner: Philosophie und Politik in China – die Kontroverse über den dialektischen Materialismus in den dreißiger Jahren. In: Wilhelm Fink Verlag, 259 Seiten, Preis 32 DM

Dieser Artikel erschien zum ersten Mal in der Kultur Sektion der Tageszeitung Dienstag, 27.10.87

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