Ποιειν Και Πραττειν - create and do

Geschäft oder Bildung? von Justus H. Ulbricht


Ambivalenzen im Umgang mit dem

europäischen Kulturerbe – das Beispiel Weimar

Vortrag auf der 2. HERMES-Konferenz

Krakow, 28.-30.10.2005

 (abstract in English below)

Meine Damen und Herren,

als ich mich auf meinen heutigen Vortrag vorbereitete, habe ich versucht, schnell herauszubekommen, welche kulturellen Beziehungen zwischen der Stadt, in der ich arbeite, und Krakow sichtbar werden, sobald ich ein bestimmtes so genanntes „neues Medium“ nutze.

Wenn Sie im elektronischen Katalog der Herzogin Anna Amalia-Bibliothek in Weimar die Suchworte „Weimar“ und „Krakau“ gemeinsam eingeben, geschieht nichts: kein Treffer. Wenn Sie hingegen „Krakau“ allein eintippen, werden Ihnen 48 Titel aus dem Bestand der wichtigsten bundesrepublikanischen Forschungsbibliothek zur „deutschen Klassik“ genannt. Der jüngste – aus dem Jahr 2003 – befasst sich mit der Geschichte der Krakauer Architektur und den Grünanlagen der Stadt; der älteste – vom 8. März 1539 – lautet: „Copey eines Brieffs Königklicher Maiestät zu Polen, an den Durchleuchtigsten Fürsten Hertzogen in Preussen...umb hilff wieder die Türcken“, wird König Sigismund zugeschrieben und stammt vermutlich aus Krakau. In allen anderen Titeln taucht das Wort „Weimar“ als Bezug nicht einmal auf.

Treffer Nr. 11 aber lautet: „Als Jude im besetzten Polen: Krakau – Auschwitz – Buchenwald“, ist die Autobiographie eines Überlebenden der Shoa, der einst nach Weimar-Buchenwald ins dortige Konzentrationslager verschleppt wurde, der ursprünglich aber aus Krakau stammte und dort 1942 von den deutschen Besatzern verhaftet wurde. Dieser Stanislaw Taubenschlag lebte später als Stanley Townsend in Amerika und Frankreich.

Doch zurück nach Weimar: Sucht man dann einmal – um sich der deutsch-polnischen Beziehungen auf angenehmere Weise zu vergewissern – im Katalog nach „Goethe“ und „Krakau“ kommen keine Treffer; bei „Goethe“ und „Polen“ hingegen vier, darunter eine Reiseerzählung „Mit Goethe in Polen“ von 1986 oder ein Bericht über eine Goethe-Ausstellung in Danzig 1930. Insgesamt aber: wenig direkte Treffer.

Wer also ohne weitere Vorkenntnisse derartige Recherchen anstellt, wird kaum fündig oder stößt manchmal eher zufällig auf die Verbindung zwischen einzelnen Facetten des Weimarer Kulturerbes und solchen der polnischen Kultur- und Geistesgeschichte. – Die germanistische Spezialliteratur über Goethes Wirkung und Rezeption in Polen hingegen dürfte uferlos sein.

Im Park von Weimar, hinter dem Schloss an der Ilm, steht eine – schrecklich sozialistisch reale – Büste von Adam Mickiewicz, den oder dessen Werke in Deutschland nur noch einzelne Wissenschaftler kennen. Dies Standbild fand seinen Platz 1956 im klassischen Park zu der Zeit, als die DDR die Nationaldichter „befreundeter“ sozialistischer „Bruderländer“ in der Stadt ihrer eigenen Klassiker ebenfalls zu ehren gedachte. Wer das „Weimar-Lexikon“ benutzt, wird darüber informiert, dass Mickiewicz 1829 zum 80. Geburtstag Goethes unter den Gästen weilte.

Heute ist all dies Vergangenheit wie die DDR selbst und die alte Volksrepublik Polen, ist allemal ein erklärungsbedürftiges Erbe – gehört ein Autor zum „Erbe“, dessen Texte und Biographie kaum jemand mehr kennt? Ich rede von Deutschland, die Präsenz von Mickiewicz im aktuellen kulturellen Gedächtnis Ihres Landes kann ich nicht beurteilen...und ich weiß auch nicht, was die jüngere Generation in Polen vom größten polnischen Autor des 19. Jahrhunderts noch kennt – oder mehr oder weniger freiwillig in der Schule lernen muss.

In dem Buch „Deutsche und Polen. 100 Schlüsselbegriffe“ von 1993 taucht „Klassik“ im übrigen ebenso wenig auf wie „Goethe“ oder der Ortsname „Weimar“; dafür aber wenigstens viermal „Schiller“, zehnmal „Romantik“ und siebenmal „Weimarer Republik“ – dort könnte man also fündig werden. Im neuesten Sammelband über „Polen und Deutsche“ von 2003 kann man immerhin an neun Stellen einen Hinweis auf Goethe finden, und zwar dort, wo es um die Themen „Bildung“, „Literatur und Gesellschaft“ geht.

Mir scheinen diese kulturgeschichtlichen Zufallsfunde einen geeigneten Einstieg in unser Thema zu bieten. Erbebestände werden nach Bedarf definiert und als Korpus konstruiert, mit Bedeutung versehen, selektiv angelegt und selektiv genutzt und sie unterliegen im Kontext politischer Systemwechsel erneuten Umdeutungen und Umcodierungen. Sie sind also in der Regel niemals allgemeinverbindlich für eine gesamte Gesellschaft, sondern an bestimmte Milieus und Gruppen sowie deren spezifische Interessen gebunden. Welches „Erbe“ ich also antreten möchte, auf welches ich stoße und ob verschiedene Nationen und Kulturen durch bestimmte geschichtliche Ereignisse oder gar durch ein gemeinsames Erbe verbunden sind – das ist in erster Linie eine Frage der Entscheidung, der politischen Aufmerksamkeit und Sensibilität sowie des historischen Wissens; und schließlich auch eine Frage, wo und wie ich in der uferlosen Überlieferung des Vergangenen anfange zu suchen.

Kategorien wie „nationales“ oder „europäisches“ Kulturerbe sind also nicht selbsterklärend. Immer aber werden sie mit großen Ansprüchen verbunden, sollen „Identität“ stiften, zivilgesellschaftliche Normen beglaubigen oder den Bürgern eines bestimmten Landes dessen kulturelle und politische Bedeutung suggerieren. Touristisch vermarktet werden dabei zumeist die ästhetisch ansprechenden, politisch korrekten, also unproblematischen, und kulturell angenehmen Überlieferungen; die negativen Seiten der Geschichte, die verstörenden Ereignisse der Vergangenheit und die Traumata der individuellen wie kollektiven Biographie sperren sich eher gegen eine glatte Nutzung im kulturtouristischen und ökonomischen Sinne. Mit ihnen kann man sich professionell in der Abgeschiedenheit von Akademien und Universitäten leichter beschäftigen als im Streit der öffentlichen Meinungen oder im Kontext touristischer Event-Kultur. Und was heute nicht die Aufmerksamkeit der Medien genießt, wird schneller vergessen als einst angeeignet und gelernt.

Der Begriff „Ambivalenz“, der im Untertitel meines Vortrags auftaucht, besitzt also selbst schon verschiedene Facetten: das europäische Kulturerbe (von dem wir selbstverständlich reden, ohne uns einig zu sein darüber, was dazu gehört) kann ambivalent oder gar vieldeutig sein; die Bedeutung des Ererbten für die jeweilige Gegenwart weist Ambivalenzen auf und die Formen des Umgangs mit dem Erbe sind oftmals ebenso ambivalent wie die soziale Zusammensetzung seiner Trägergruppen vielschichtig ist. Auch die Gefühle, die das Individuum wie auch manchmal eine ganze Gesellschaft angesichts bestimmter Erbebestände und Erinnerungen befallen, sind oftmals ambivalent.

Gute Geschäfte im Sinne touristischer Vermarktung macht man – ich sagte es schon – meist mit den pittoresken Sachzeugen der Vergangenheit, mit schönen Dingen, landschaftlichen und baulichen Kleinodien, beeindruckenden Parks und Gärten und den „guten Geschichten“ voller Bedeutung und Geheimnis. Die Tourismusindustrie und deren Werbung setzen immer wieder auf die Beschwörung der Präsenz längst gestorbener Geister. So behauptet beispielsweise das diesjährige Prospekt der „Thüringer Tourismus GmbH“ mit dem saisonal bedingten Titel „Schiller lockt“, dieser „klassische“ Autor sei noch heute an den Stätten seines ehemaligen Wirkens „präsent“. Was aber weiß ich über Schiller, nachdem ich sein Haus, seine Kammer oder sein Sterbezimmer besichtigt habe. Und wie präsent ist ein Dichter wirklich, über den man zwar im Schiller-Jahr 2005 allenthalben und allüberall spricht, auch in Weimar natürlich, den die meisten lebenden Deutschen jedoch nur noch dem Namen nach kennen.

In dem vor einigen Jahren erschienenen Sammelwerk „Deutsche Erinnerungsorte“ steht auch ein Artikel über „Schiller“ (interessanterweise unter der Rubrik „Freiheit“). Doch wird dort festgestellt, dass Schiller heute kein „deutscher Erinnerungsort“ mehr ist, sondern ein Fall für Spezialisten und ein lebendiger Autor für allenfalls einige Hunderttausend Bundesbürger, die regelmäßig ins Theater gehen und dort ab und zu auch ein Stück von Schiller sehen. Aber der Dichter der Nation sei Schiller längst nicht mehr. Das hat auch damit zu tun, dass die Beziehung zwischen „Kultur“ und „Nation“ in Deutschland vielfach entkoppelt oder sehr vage definiert ist – anders als im 19. Jahrhundert, dem Saeculum der deutschen (und wohl auch der polnischen) Nationaldichter.

Die Diskrepanz zwischen der nüchtern, wissenschaftlich konstatierten Bedeutungslosigkeit eines Dichters für das nationale Selbstverständnis der Nation und der emphatischen Behauptung der Tourismusbranche, der Autor sei bis heute präsent, diese Diskrepanz verweist auf spezifische Probleme und Widersprüchlichkeiten im Umgang mit dem kulturellen Erbe, denen ich mich nun etwas genauer zuwenden möchte, und zwar – wie angekündigt – am Weimarer Beispiel.

Seit den Napoleonischen Befreiungskriegen, verstärkt aber seit Mitte des 19. Jahrhunderts, wurden die mit dem Wort „Weimar“ assoziierten und am Ort Weimar real versammelten kulturellen Überlieferungen zum integralen Bestandteil der Selbstbesinnungsprozesse des deutschen Bildungsbürgertums, später gar der gesamten Nation. Im Zuge dieser Entwicklung deutete man das kulturelle Erbe (insbesondere das der Klassik) immer deutlicher ausschließlich national und nutzte es identitätspolitisch entsprechend. Dabei changierte die Politisierung der kulturellen Überlieferung zwischen nationalliberalen, konservativen und aggressiv völkischen Positionen. Schiller und dessen Mythos wären im Übrigen ein Beispiel der Instrumentalisierung des Erbes auch durch die politische Linke am Ende des 19. Jahrhunderts.

Sämtliche politischen Regimes seit Mitte des 19. Jahrhunderts nutzten die ideellen Ressourcen Weimars für ihre höchst heterogenen Zwecke. Doch letztlich ungebrochen blieb bis in die Jahrzehnte des real existierenden Sozialismus hinein der nationale Bezug der Erbepflege. Zahlreiche Deutsche, nicht zuletzt die Gebildeten und die politischen Eliten, waren über fast eineinhalb Jahrhunderte der Überzeugung, dass ein Besuch der Weimarer Memorialstätten und Museen eine nationalpädagogisch fruchtbare Wirkung auf das Individuum wie die gesamte Gesellschaft ausübe. Ein populärer Reiseführer brachte das Mitte der Zwanziger Jahre auf den Punkt; er trug den Titel: „Weimar – eine Wallfahrt in die Heimat aller Deutschen“. Noch die staatlich bestallten Erbeverwalter der DDR erhofften sich von den Weimar-Besuchen eine heilsame Wirkung auf den einzelnen DDR-Bürger, der sich angesichts der Sachzeugen einer großen Vergangenheit zur sozialistischen Persönlichkeit weiter entwickeln sollte.

Welche offiziellen Erwartungen heute an einen Weimar-Besuch geknüpft werden, ist hingegen schwer zu sagen. Die ständige Beschwörung der „europäischen“ Dimension des an der Ilm materialisierten Erbes aber passt zur momentanen politischen Großwetterlage – nur ist oftmals recht vage definiert, was ein „europäisches Kulturerbe“ inhaltlich ausmacht. Das Epitheton „europäisch“ suggeriert manchmal wenig mehr, als dass man dies oder jenes für „schön“, „wahr“, „gut“ und politisch unbedenklich hält. Ob und wie man „Europäer“ in Weimar erziehen kann, möchte ich gegen Ende meiner Bemerkungen fragen.

Wenn wir über die Jahre nach 1945 sprechen, gilt es zu bedenken, dass seitdem auch die Erinnerung an die Gräuel im Konzentrationslager Buchenwald zum Weimarer Erbe gehört. Buchenwalds Geschichte, ab 1958 in staatsoffizieller Weise im Mahnmal von Buchenwald regelrecht versteinert und in der Gedenkstätte museumspädagogisch und ausstellungsdidaktisch aufbereitet, ‚bewies’ zweierlei: zum einen den Verrat des deutschen Bürgertums am klassischen Erbe, an den Goetheschen Idealen von „Weltbürgertum“ und „Humanität“, zum anderen die heldenhafte Rolle des antifaschistischen Widerstands, als dessen Erbevollstrecker – so hieß das wörtlich – sich die Funktionseliten der DDR fühlten, die ihre Bürger dazu einluden, sich als Bewohner des „besseren Deutschland“ zu verstehen. Die Ideale, die der Adel, das Kapital und das Bürgertum schmählich verraten hätten, würden nun – in der DDR – durch die deutsche Arbeiterklasse und deren Avantgarde-Partei SED endlich verwirklicht. Zu dieser Erzählung passte nicht, dass die Einrichtungen des ehemaligen KZs Buchenwald bis 1950 von der sowjetischen Besatzungsmacht als so genanntes „Speziallager 2“, also als Internierungslager, weiter genutzt worden waren und dass dort oben deshalb weiter Menschen starben. Darüber konnte man öffentlich erst nach 1989 sprechen – heute existiert in der Gedenkstätte ein eigenes Museum für diese zweite Lager-Geschichte.

Im geschichtspolitischen Konzept der DDR gehörten die schon 1953 gegründeten „Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur“ unten in der Stadt und die „Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald“ auf dem Ettersberg über der Stadt eng zusammen. Beide Institutionen verfügten nicht nur über eigene pädagogische Abteilungen, sondern sie schulten regelmäßig auch die – nun nicht mehr Stadtführer – genannten „Stadtbilderklärer“ Weimars, also diejenigen, die Massen von Besuchern und Touristen durch die Klassikerstadt führten. Abweichende und widersprüchliche Geschichten, die dem allzu glatten sozialistischen Erbeverständnis der DDR widersprachen, waren zwar immer Teil der privaten Kommunikationszusammenhänge, blieben jedoch – wenn denn die Kontrolle gelang – aus den offiziellen Diskursen ausgeschlossen.

Heute nun, fünfzehn Jahre nach der Wende, hat sich die erinnerungspolitische Situation in Weimar entscheidend gewandelt. Die neu vereinte Bundesrepublik ist zwar ein Nationalstaat, doch was das so genannte „nationale Erbe“ dieses Staates ausmacht, ist offen, bleibt umstritten und wird äußerst kontrovers debattiert. Weimar und Deutschland haben in einem jahrzehntelangen Prozess der Diskussion und Aneignung das dunkelste Kapitel der eigenen Nationalgeschichte zum integralen Bestandteil ihrer Geschichts- und Erinnerungspolitik gemacht. So ist in Weimar – und auch dies kann man an der offiziellen Städtewerbung zum Schiller-Jahr aufzeigen – immer wieder vom „Dritten Reich“, von Hitler und von Buchenwald die Rede.

Manchmal geschieht dies allerdings nur pflichtschuldigst, also aus Gründen der politischen Korrektheit; doch scheint es so, dass immer mehr Stadtführer in ihren Erläuterungen auf die problematischen Seiten der Weimarer Geschichte hinweisen. Offen bleibt jedoch, wie präzise dies geschieht, denn es fehlen systematische Untersuchungen des stadttouristischen Angebots.

Im Schaufenster des Buchladens der Klassik Stiftung Weimar oder in den Auslagen des größten Museumsshops der Stadt im Goethe-Nationalmuseum, wird man Veröffentlichungen zu den eher unerfreulichen Aspekten der Orts- und Nationalgeschichte auf den ersten Blick nicht finden. Hier dominiert ein geschöntes Klassik-Bild, was umso mehr erstaunt, als die Klassik Stiftung selbst seit 1995 in mehreren Forschungsprojekten und Ausstellungen die Politisierung des kulturellen Erbes gründlich erforscht hat. Andererseits liegen die entsprechenden Veröffentlichungen in jedem Buchladen der Stadt aus und am Marktplatz hat vor zwei Jahren ein Informationszentrum der Gedenkstätte Buchenwald seine Pforten geöffnet.

Trotz gründlicher Forschungen: die Geschichte der DDR ist im öffentlichen Bewusstsein – erst recht jedoch im Feld touristischer Vermarktung – in Weimar auffallend unterrepräsentiert, ja eigentlich nicht wahrnehmbar. Vierzig Jahre deutschen Lebens und städtischer Geschichte sind nahezu verschwunden; in den Biographien der Bewohner der Stadt jedoch umso präsenter. Doch das erfährt nur der, der in Weimar lebt oder der danach fragt. Ich denke auch, dass viele Besucher dieser Teil der Vergangenheit einfach nicht interessiert.

Das Interesse an den ausschließlich schönen Seiten der Ortsgeschichte bei der überwiegenden Mehrheit der Besucher Weimars ist unverkennbar. Interessant ist eine Haltung, der man in Gesprächen und Diskussionen öfter begegnet. Die bewusste Erinnerung vieler Touristen richtet sich auf die angeblich schönen alten Zeiten der Feudalzeit, springt also gewissermaßen aus der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft hinaus in Epochen, deren äußerer Glanz bis heute in Parks, Schlössern, prächtigen Wohnhäusern und ästhetisch ansprechenden Objekten der Museen greifbar ist. Tourismus-Werbung setzt genau hier an und vermarktet diese reizvollen Objekte, schneidet dabei aber oftmals deren konkrete Geschichte ab. Ein auf die Katastrophen und Untaten des „Dritten Reiches“ und auch der DDR fixierter Blick verstärkt diese Idealisierung der anderen Vergangenheiten. Umgangssprachlich formuliert: ‚das Schlimme’ in Deutschland und Weimar hat dann zwischen 1933 und 1945 oder auch noch zwischen 1949 und 1989 stattgefunden, die anderen Epochen wirken demgegenüber als unproblematisch, als Zeiten gelungener Geschichte – sind verklärte Vergangenheit und damit auch ein Sedativ für die unklare, verwirrende und viele Menschen beängstigende historische Situation unserer eigenen Gegenwart. Die Flucht aus der Zeit findet dann Halt und Ziel in zu recht gemachter Vergangenheit.

In diesen Leerstellen der oberflächlichen Erinnerung hat nun ‚Bildung’ anzusetzen. In Weimar eignet man sich Informationen ja nicht allein auf der touristischen Flanerie durch die Innenstadt an, sondern mehrere Institutionen bieten rund ums Jahr Bildungs- und Informationsprogramme an, die versuchen, Geschichte lebendig, aber differenziert und problemorientiert darzustellen. Das Gelingen solcher Angebote hängt allerdings von einer Sache ab, die die meisten Tagestouristen nicht haben: von Zeit nämlich. Differenzierte Informationsangebote erreichen nur diejenigen, die bereit sind, mehr als nur ein paar Stunden für einen Weimar-Besuch zu investieren. Unverkennbar ist der Ort zunehmend beliebt bei privaten Bildungstouristen und offiziellen Bildungsurlaubern (ein so genannter Bildungsurlaub steht Beamten, Angestellten und Arbeitern in der Bundesrepublik gesetzlich zu; er kann beim jeweiligen Arbeitgeber beantragt werden). Diese Klientel sowie zahlreiche Schüler und ganze Schulklassen können in Weimar ein ausgefeiltes Bildungsangebot wahrnehmen und in diesem Rahmen ihre Kenntnisse über die deutsche Geschichte vertiefen. Weimars Bauten, Museen und Sammlungen sind ideale Objekte für einen im wahrsten Wortsinn anschaulichen kulturhistorischen Unterricht, in dem Vorträge und Diskussionen durch Exkursionen und Museumsbesuche ergänzt werden können.

Wer nun aber diese Infrastruktur sinnvoll zu pädagogischen und informatorischen Zwecken nutzen möchte, wird sich über seine eigenen Ziele Rechenschaft ablegen müssen. Welches „Erbe“ und was am „Erbe“ wollen wir also zum Sprechen bringen und in welcher Absicht, mit welchem Ziel – außer dem, möglichst viele Menschen nach Weimar zu locken, damit sie dort Geld ausgeben. Dies ist ein legitimes Ziel, gerade unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten und gerade auch in strukturschwachen Gebieten wie den „neuen Bundesländern“, aber Kultur und Bildung sollten nicht ausschließlich in der Rolle als „weiche Standortfaktoren“ aufgehen.

Gerade im emphatischen Bildungsbegriff der deutschen Klassik und des Neuhumanismus stecken Potenzen, die sich in Kategorien wie „Unterhaltung“, „Information“, „Nützlichkeit“ und „Markt“ nicht erschöpfen. Und wer der Meinung ist, dass Kultur und Kunst zu allen Zeiten immer auch den Widerspruch zu dem, was herrscht, entfaltet und ästhetisch veranschaulicht haben, hat die Aufgabe, gerade diese Seiten des kulturellen Erbes stark und sichtbar zu machen. Dabei sollte deutlich werden, wie zerbrechlich und gefährdet friedfertige Kultur sein kann, wie dünn der zivilisatorische Firnis ist, der über ganz Anderem in uns und unseren Gesellschaften liegt. Dies ist kein Plädoyer für ein pessimistisches Menschenbild, doch gehört das Bewusstsein, dass Kultur als Wirklichkeit, Ideal und Utopie gelungener Geschichte kein Selbstläufer ist, unverzichtbar zu dem, was ich gerne ‚deutsche Bildung in europäischer Absicht’ nennen würde. Einsicht und Sensibilität in dieser Hinsicht lassen sich auch und gerade in Weimar gut vermitteln, hat dort doch das Kulturvolk der Deutschen einst einen Ort der Barbarei geschaffen, der etwa 10 km vom Goethehaus entfernt lag.

Wir sind es nicht allein uns als Nation, sondern unseren Nachbarn und Europa schuldig, das nicht zu vergessen – ohne dass wir so naiv sein dürften, man könne aus den Fehlern der Vergangenheit automatisch und ganz eindeutig etwas für die Zukunft lernen. Was das „Erbe“ uns erzählt, liegt nicht an diesem selbst, sondern an unseren Fragen – diese aber stammen aus dem Bewusstsein unserer eigenen Gegenwart, aus einer staatsbürgerlichen Haltung, die ein Interesse an gelungener Geschichte in demokratischer Gesellschaft hat. In dieser Hinsicht ist der Umgang mit dem kulturellen Erbe der eigenen wie dem anderer Nationen immer politisch.

 

Justus H. Ulbricht
(Classic Foundation Weimar/D; E-mail: kulturgeschichte(at)swkk.de, jhujena(at)web.de)

Abstract

Business or Education? Ambiguities in Dealing with European Cultural Heritage - the Example of Weimar

The topic of this paper is the cultural heritage of Weimar, and how it is dealt with at present. The point of departure for the following considerations is a quick search in the library catalogue of the Duchess Anna Amalia Library on some terms such as ‘Weimar’, ‘Krakau’ or ‘Klassik’. This brief exercise bears little fruit, leading one to the assumption that there are only few direct connections between Weimar and Cracow. And even those few artefacts in Weimar which do hint at a link between German and Polish culture – such as the little monument of Adam Mickiewicz next to the town castle – are nowadays probably of very little significance to most Germans.
This paper argues that heritage repositories are defined according to certain requirements. They have to be constructed as a corpus and rendered meaningful; they are designed and used in a selective manner. They are also subject to alterations of their content and meaning with the changing of political systems. Therefore, one can argue that such ‘heritage stock’ never bears a general significance for an entire society, but that it is rather connected to certain groups and milieux and their particular interests. Which ‘heritage’ I want to come into, which one I encounter, whether different nations and cultures are connected to one another through certain historical events or even a common heritage – all this is first and foremost a question of decision, of political attention and sensitivity, and of historical knowledge. Furthermore, it is also a question of where I begin my search in the limitless tradition that it is handed down to us from (and about) the past.
Categories such as ‘national’ or ‘European’ cultural heritage are therefore not self-explanatory. And yet they are always linked to great expectations and demands: they are supposed to create ‘identity’, to reinforce the norms of civil society, or to make the citizens of a particular country aware of its cultural and political significance.
Looking at the ways in which heritage is commercialized by the tourism industry, one usually finds a clear focus on the aesthetically and culturally pleasant, politically correct and unproblematic traditions. On the other hand, negative aspects of history, disturbing events of the past, and the traumata of individual and collective biographies are much more difficult to handle in terms of a utilization for the purpose of economy and cultural tourism. They are more easily dealt with in the seclusion of academies and universities than in the dispute of public opinions or within ‘touristy’ event-culture.
The term ‘ambiguity’, which figures in the title of this paper, thus possesses various facets already in itself: European cultural heritage (which we talk about quite naturally, without having consensus as to what it encompasses) can be ambiguous; the significance for the present of what is inherited is ambiguous; and the way in which heritage is dealt with is often ambiguous, too, as is the multi-layered social composition of the groups which produce it. Likewise, the emotions by which individuals – or sometimes whole societies – are overcome when confronted with certain heritage or memories, can be ambiguous.
Good (i.e. successful) business, in the sense of selling a product on the tourism market, is usually achieved with picturesque witnesses of the past, with beautiful things and the ‘nice stories’ full of significance and secrets.
Turning to the particular case of Weimar, it has to be mentioned that every political regime since the middle of the nineteenth century has used the spiritual, non-material resources of the place for very diverse purposes, predominantly with a marked reference to the nation. The expectations which are ‘officially’ directed towards a visit of Weimar today are difficult to fathom. The permanent incantation of the ‘European’ dimension of the heritage of Weimar is very much in line with the general political mood these days. All too often, however, ‘European cultural heritage’ is only vaguely defined in terms of its content and character.
When we speak about the years after 1945, we should bear in mind that since those times, the memory of atrocities in the concentration camp at Buchenwald also belongs to the heritage of Weimar and its representation. At present, we are witnessing a fundamental change of the situation in Weimar with regard to the politics of remembrance. Although the unified Federal Republic of Germany is indeed a nation-state, there is little certainty as to what constitutes its ‘national heritage’, and much dispute and controversy on this issue.
In a process which lasted several decades, Weimar and Germany have made the darkest chapter of their own national history – the ‘Third Reich’, Hitler, and Buchenwald – an integral part of their policy of history and remembrance. In contrast to this, the history of the GDR is remarkably under-represented in public consciousness, and even more so in the field of market-oriented tourism. Forty years of German life and urban history have virtually disappeared from the surface, while they are still clearly present in the biographies of the inhabitants of the town. But this is only revealed to those who live in Weimar or actively inquire about these things. The great majority of visitors to Weimar clearly show an interest exclusively in the ‘beautiful’ facets of local history.
To describe the situation in a simplified manner, one can state that the ‘evil’ part of German and Weimar history appears to have taken place between 1933 and 1945, and perhaps also between 1949 and 1989; in contrast to these, other epochs seem unproblematic, as phases of ‘succesful’ history. Therefore, the task of education (‘Bildung’) should be to occupy these empty spaces of superficial memory.
Yet the success of such offers and initiatives strongly depends on one thing which most day visitors to Weimar do not have: time. The buildings of Weimar, its museums and collections, are ideal objects for education in cultural history which makes its objects vivid and understandable. Whoever intends to use this kind of infrastructure for the purpose of information and education, should account for his aims and intentions: which ‘heritage’, and what aspect of ‘heritage’ do we want to bring to life? What is our intention, what is our aim – apart from attracting as many people as possible to Weimar so that they spend their money there. This is also a legitimate goal, especially with regard to economic aspects and structurally weak areas such as the ‘new federal lands’; on the other hand, however, the role of culture and education should not be restricted to their function as ‘soft locational factors’.
This is particulary true for the notion of education (‘Bildung’) developed by the German Classic. According to this, there is more to education than ‘entertainment’, ‘information’, ‘usefulness’ and ‘market’. And whoever would subscribe to the opinion that culture and art have always fostered and visualized aesthetically the contradiction to dominant positions, ought to strive for a strengthening of these facets of cultural heritage. In doing so, it should become clear how fragile and threatened peaceful culture can be. Weimar is a place fit for such an important task – where once a place of barbarism was created just 10 kilometres from Goethe’s house.
It is required of the Germans not just for themselves as a nation, but also for their neighbours and for Europe, that they do no forget about this – without being so naive to think that it should be possible to learn from the mistakes of the past automatically and unambiguously. What ‘heritage’ is telling us does not lie in the heritage itself but in the questions that we pose – yet these stem from a consciousness of our own present, from the attitude of citizens of a democratic state. In this respect, dealing with the heritage of one’s own nation, or that of others, is always a political issue.

 

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