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Wahrnehmung gesellschaftlicher Realität - Beispiel Pablo Neruda

Ob die moderne Poesie zu genauen Beobachtungen des alltäglichen Lebens imstande ist, bedarf einer genaueren Befragung. Fast unbemerkt können zum Beispiel schmerz erfüllte Figuren gleich einem Schatten an einem vorbei gehen ohne wirklich ihre Schmerzen, Ängste aber auch Rage wahrzunehmen. In einer Millionen Stadt wiegt die Anonymität des anderen schwerer als vertraute Nachbarschaften in der jeder den anderen kennt. Das unsichtbare Etwas das sich dadurch bemerkbar macht und sich über die ganze Stadt wie dichter Nebel legt, ist mehr als nur Entfremdung oder Verfremdung.

Der Dichter Amir Or nimmt das zum Anlass um eine neue Variation von Kavafys "Warten auf die Barbaren" zu wagen; sein Gedicht "Die Barbaren sind bereits unter uns" besagt die Wahrnehmung des anderen ist zutiefst dadurch gestört, daß keiner vorher wissen kann wer unter den Wartenden an einer Bushaltestelle eine Bombe in seinem Rucksack trägt und sich früher oder später als Selbstmordattentäter entpuppen wird. Immer wieder gehen Bomben besonders in öffentlichen Orte der Städte hoch, sei es ein Cafe, Musikklub, Passage, Flughafen oder auf einem berühmten Platz wo sehr viele Menschen zu diesem Zeitpunkt sich aufhalten.

Die Verwundbarkeit der Städte hat im 21.Jahrhunder wegen der Ausdehnung des Krieges in der ganzen Welt zugenommen. Vor allem die Zivilisten sind davon betroffen. Sie müssen oftmals dafür herhalten wenn die Bombenattentäter ihre anonyme Botschaft des Schreckens senden wollen. Nach solch einer Tat geht immer ein Entsetzen durch die Gesellschaft weil erneut unzählige unschuldige Menschen umgekommen sind, oder gezielt ermordert wurden z.B. Charlie Hebdo in Paris. Oft ist ungewiss wer die wirklichen Adressaten dieser Botschaften sein sollen, selbst dann wenn vermutlich ganz allgemein der Westen gemeint ist. Außerdem steckt hinter jedem terroristichen Akt sehr viel Willkür. Plötzlich werden die Menschen aus ihrem Alltagsleben oder Touristentage heraus gerissen. Die Willkür des Terrors macht alles umso schlimmer weil das jeder Zeit irgendwo, irgendwann passieren kann.

Menschen mögen vor allem keine Willkür. Das war bereits Anlass für die Französische Revolution als damals besonders die armen Leute der Unterschicht nicht mehr ertragen konnten, dass es ein Gesetz für die Reichen gibt und ein anderes für sie. Während ein Aristokrat ein Mädchen erst schwangern, dann umbringen konnte, aber dennoch auf freiem Fuss blieb, verlor ein Armer der beim Apfelklauen erwischt wurde, wenn nicht zu Tode geprügelt, seine Hand oder sogar einen ganzen Arm. 

Das Angst vor Willkür hebt anderseits die Bedeutung von Gesetzmässigkeit hervor. Sie ist erst im umfassenden Sinne zu verstehen, und darum nicht auf bloß kausale oder physikalische Gesetze zu reduzieren. Um den gesamten Sinn von Gesetzmässigkeit im Leben zu erfassen, benötigen die Menschen weitere Einsichten was das Zusammengehen mit den anderen ermöglicht. Poesie als auch philosophische Reflexionen sind imstande in Ergänzungen zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen von Gesetzen der Natur dazu beizutragen.

Adorno ging deswegen von einer 'zweiten Natur' aus. Das besagt jegliche Ich-Identität geht aus einer Synthese von Natur und Gesellschaft hervor. Um zum Selbstverständnis zu gelangen, bedarf es ferner eine Klärung des Begriffes 'Selbst'. Wiederum macht Adorno darauf aufmerksam Kant habe ihn sehr häufig gebraucht ohne ihn näher zu definieren. Im Selbst-Bezug macht sich außerdem im sprachlichen und averbalen Sinn bemerkbar die Art und Weise wie mit einem selber umgegangen wird. Die Bandbreite von 'Scheiß' Kerl' bis zum Prinz- oder Prinzessin-Sein ist ziemlich groß, entscheidend ist jedoch, dass jegliche Selbstwahrnehmung die Wahrnehmung des anderen und darum auch der gesellschaftlichen Realität beeinflusst. Hier handelt es nicht um eine Relativitäts-Debatte die zwischen subjektiver und objektiver Wahrnehmung hin und her schwankt, und sogar Sartre im Sinne des Existenzialismus behaupten liess der andere existiert nur dann wenn 'ich das entscheide'. Vielmehr erlaubt das Kennenlernen von sich selber die Bildung einer Basis von Verstehen, so daß alles was gesagt und behauptet wird im Bezug auf gelebte Erfahrungen ihren Anspruch auf ein gültiges Erkennen gesellschaftlicher Realität erheben kann.

Im Zusammenhang mit Hölderlin wurde die These von Lawrence Ryan erwähnt, daß "Hölderlin ...Dichtung weder als subjektives Bekenntnis noch als unmittelbare Kundgabe des Gefühls, sondern als 'Erkenntnis', die Anspruch auf objektive Gültigkeit hat, versteht." (Lawrence Ryan, Friedrich Hölderlin, 1962, s.7) Da Hölderlin im Sinne des deutschen Idealismus eher eine doch letztlich mystische Natur und nicht den Menschen meint, wird hier der Anspruch auf Gültigkeit gegenüber einer ganz anders eingestellten Gesellschaft erhoben. Die Art und Weise wie Dinge von einer Gesellschaft in einer bestimmten Phase der Entwicklung wahrgenommen werden, fordert den Dichter heraus. Hölderlin wollte in seiner Zeit die Decke der christlichen Orthodoxie durchbrechen aber alleine, und ohne einem revolutionären Gelingen in Deutschland war das unvorstellbar.

Heutzutage macht sich eine andere gesellschaftliche Wahrnehmung bemerkbar. In einem globalen Zeitalter entstehen und vergehen sehr schnell die Formen des Zusammenlebens ähnlich zum Fluss mit starker Strömung. Bei Form ist gemeint was Ernst Bloch hervor hob ab, nämlich ab wann etwas in unserer Wahrnehmung erst wirklich existiert: Wasser als Inbebriff von Materie besagt zwar etwas, aber die Bezeichnung von Fluss oder See macht erst die Existenz der Dinge wahrnehmbar. Da die Bezeichnung der Form ebenso die Struktur dahinter erkennbar macht, wird durch das Funktionieren die Existenzberechtigung der Form in ihrer Gesetzmässigkeit anerkannt.

Konsequenzen entstehen aus der Verwendung sprachlicher Formen weil sie das Verhalten oder den menschlichen Umgang sowohl mit einem selber als mit anderen bestimmen. Allerdings trägt fast jeder im Alltag seine oder ihre sprachliche Maske, insbesondere wenn jeder die Sklavensprache spricht und den anderen nicht wirklich wissen lässt was wahrgenommen wird. Der Maler Watteau verliess deswegen die etablierte Gesellschaft seiner Zeit und kehrte zurück zu denjenigen die auf dem Lande noch ein offenes Gesicht bewahrt hatten. Maske besagt jeder will seine Emotionen kontrollieren, um nicht im Gesichtsausdruck zu verraten was wirklich gefühlt bzw. wie auf Nachrichten innerlich reagiert wird. Der Maskenball gehört dazu. Er besagt im Machiavellischen Sinne eine Gesellschaft voller Intrigen und geheimen Verschwörungen kann gar nicht anders als ihre wahre Motive vor dem anderen zu verbergen. Keiner weiss ob der andere sich angesprochen fühlt. Der Verlust an 'feed-back' oder Rückmeldungen verstärkt um so mehr die Unsicherheit als auch das Verlangen nach Orientierung.

Gleichzeitig wird fast jeder von der Dynamik eines Lebens in der Stadt erfasst. Das bedeutet die Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen wird jeden Tag neu gezogen. An manchen Tagen öffnen sich fast ganz von selbst die Türen und lassen die Menschen herein, während an anderen bleiben sie verschlossen. Oft verhält sich die Frau so gegenüber dem Mann. Manchmal darf er zu ihr kommen, an anderen muss er akzeptieren, dass sie an diesem Tag alleine bleiben will.

Eine urbane Poesie gestattet Einblicke in solch ein alltägliches Leben aber hebt zugleich hervor Elemente die ein Heraustreten aus dem Alltag bewirken. Oft wird das in der Poesie als ein Daneben-stehen beschrieben. James Joyce zeigt z.B. im Ulysses wie das Außergewöhnliche als Kontrast zum normalen Tagesabblauf auf die Menschen wirkt. Er zeigt ferner was alles binnen von 24 Stunden passieren kann. Gleichzeitig nimmt er den Leser mit sich auf der Suche nach einer praktischer Weisheit die die Grundlage für ein neues Selbstverständnis inmitten eines turbulenten 20.Jahrhundert ergeben soll.  Vor allem deutet er auf das Aufkommen eines anti-Semitismus und nimmt damit vorweg was dann unter Hitler in der Form einer systematischen Judenverfolgung geschah.

Adorno postulierte zu Beginn seiner ästhetischen Schrift, es gäbe nur ein einziges Selbstverständnis, nämlich dass es kein Selbstverständnis gäbe. Allem Anschein nach pflegen genau diejenigen die im Berufsleben stecken, ihre Kinder erziehen wollen und vom nächsten Urlaub träumen die Illusion eines stabilen Selbstverständnis. Sie setzen voraus, dass der Bus jeden Tag rechtzeitig abfährt und die Kinder in die Schule bringt. Aus diesem Grunde wird vieles überhaupt nicht wahrgenommen oder wenn ja, dann als etwas nebensächliches abgetan. Schlimm war im historischen Rückblick die Aussage vieler Deutscher nach dem Zweiten Weltkrieg, dass sie angeblich niemals gesehen hatten, dass die Juden aus ihrer Mitte verschwanden.

Ein Mitarbeiter von amnesty international hebt ein weiteres Problem gesellschaftlicher Wahrnehmung hervor. Er meint jemand der wie er allzu viel herum reist und darum die Menschen nur zwei, höchstens drei Mal begegnet, wird niemals solche Geschichten zu hören bekommen, die tief genug sind und darum seine Schmerzen berühren. Folglich wird er nur die gesellschaftliche Realität oberflächlich wahrnehmen und zum Beispiel im Falle der Indischen Gesellschaft es nicht vermögen zwischen einem echten und einem falschen Bettler zu unterscheiden.

Folglich verlangt die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Realität ein nochmals genauer hinsehen, um nicht beim ersten Eindruck stehen zu bleiben. Zwecks solch einer tiefer gehenden Wahrnehmung benutzt die Poesie das Kontrastmittel. Gleichzeitig will sie eher Brücken bauen und Grenzen überwinden als falsche Abgrenzungen bestätigen. Deswegen kann die Poesie auch nicht eine Philosophie akzeptieren die Mittels einer 'Negation der Negation' Grenzen im Gebrauch von Begriffen zieht.

Nun besteht aber ganz allgemein das soziale Phänomen, dass allzu viele Menschen im Schatten einer wohlhabenden Gesellschaft ein erbärmliches Dasein dahin fristen. Fast bewusstlos ihres Leidens, oder zumindest so scheint es für den Außenseiter, existieren sie irgendwie. Genau diese Beliebigkeit lässt sie in der Armut erstarren und Formen des Überlebens annehmen die keine positive Veränderung mehr zulassen. Noch schlimmer sie werden in ihrer Existenz kaum oder überhaupt nicht wahrgenommen.

                                   

              Armut auf offener Straße auf offner Straße     @HF Juni 2016

In der globalen Welt gibt es allzu viele Arme. Faktisch sind sie in den städtischen Ghettos eingesperrt oder zumindest in ihrer Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt. Das betrifft vor allem diejenigen die vom Lande in die Stadt mit Hoffnung auf Arbeit zogen. Armut auf dem Lande ist eine andere Kategorie als die in der Stadt wo Mangels sanitärer Bedingungen und oftmals ohne Strom, eine erbärmliche Existenz in einer harten urban Landschaft bestritten werden muss. In Kairo haben die Armenviertel solch enge Straßen das an ein Durchkommen einer Ambulanz nicht zu denken ist. In Brazilien brach die Zika Epidemie insbesondere da aus, wo die Stechmücken im stehenden Wasser ein Paradies vorfanden. Hunde bellen, Kinder laufen verdreckt barfuss durch enge Gassen während die Frauen sich abquälen, um die Familie ohne Mann durchzubringen.

Dieses asoziale Ungleichgewicht zwischen Frauen und Männern bezüglich dem Tragen einer persönlichen und sozialen Verantwortung gegenüber der eigenen Familie ist ebenso ein weit verbreitetes Phänomen in den Vereinigten Staaten. Insbesondere in den Unterschichten und noch mehr unter den Schwarzen fehlt die Vaterfigur am meisten. Er ist häufiger mehr betrunken als nüchtern, und verwickelt in all möglichen krummen Geschäften um sich selber zu retten. Die Kraft die seine Familie bräuchte, nutzt er für sich selber um zu überleben. Obama versuchte das als erster schwarzer Präsident anzusprechen aber mit geringem Erfolg. (Für eine interessante analytische Sichtweise betreffs Armut und offizielle Politik in den Vereinigten Staaten seit Bill Clinton 1996, siehe "How welfare reform changed American poverty, in 9 charts" bei Max Ehrenfreund August 22, 2016 https://www.washingtonpost.com/news/wonk/wp/2016/08/22/the-enduring-legacy-of-welfare-reform-20-years-later/).

James Boggs entwickelt in seinem Buch 'die Amerikanische Revolution' die Grundthese, dass die Ungleichheit zwischen arm und reich, Schwarze und Weiße mit der Implementierung der ansonsten fortschrittlichen USA Verfassung beginnt. Die Südstaaten erhielten mehr Macht im Kongress weil sie die Schwarzen zu ihrer Bevölkerungsgröße zählten obwohl die kein Wahlrecht hatten. Dieses Unrecht konnte niemals institutionell überwunden werden. Es kam zum Bürgerkrieg zwischen den Süd- und Nord Staaten und u.a. im Film "Vom Winde verweht!" festgehalten, aber die Vorurteile gegenüber den Schwarzen bzw. Afro-Amerikaner, die halten sich hartnäckig wegen eines tief sitzenden Rassismus der weissen Siedler und ihren folgenden Generationen.

Doch einer der größten Fehler der innerhalb der schwarzen Bewegung gemacht wird, und sich wiederholt verdeutlicht wie sie sich dem 'Arm-Leut' Priester anzuvertrauen, ist an einer ganz bestimmten Moralvorstellung festzuhalten. Sie wird nicht direkt ausgesprochen, sondern eher in Hymnen oder in der stochatischen Rede des Priestes in religiösen Zeremonien indirekt vorgetragen. Ernst Bloch verwies darauf, dass diese 'Arm-Leut' Priester würde eine Sklavensprache festigen, und deshalb eine Emanzipation aus der Sklaverei verhindern. Solch eine Sprache erlaubt das Maskieren eigener Motive und pervertiert zugleich alles ins Gegenteil, so dann bedeutet Liebe Haß und umgekehrt 'hau ab' in Wirklichkeit 'komm her, denn ich liebe Dich'. Solch eine Moral verkleidet als Predigt gibt vor das Gegenteil zur üblichen politischen Rhetorik zu sein, doch stärkt sie nur noch mehr die bereits bestehende Hierarchie innerhalb der Gesellschaft mit den Schwarzen stets ganz unten. Was sich sonst noch in diesen Gettos abspielt, ist allerdings kaum vorstellbar.

Zur materiellen Not kommt noch eine Armut an Erfahrung hinzu. Letztere scheint den Armen mehr als alles andere den Zugang zur restlichen Gesellschaft zu versperren.

Reichtum bedeutet ebenso eine Armut anderer Art. Wenn Menschen in ihren vornehmen Vororten leben, sie niemals in Kontakt mit der Mehrheit der Bevölkerung treten, dann verlieren sie zunehmend den Kontakt zu der Realität der anderen. Völlig isoliert starb Johnny Cash auf seiner Ranch. Das Selbe gilt für Michael Jackson und vielen anderen die einmal Superreich geworden nicht mehr aus ihrer goldenen Einsamkeit ausbrechen können, und letztlich daran verzweifeln. Als Päsident Obama ins Weisse Haus einzog, versuchte er das Straßenmilieu das ihm von Chicago her vertraut war, mitzunehmen. Vor allem war der Friseurladen eine wichtige Informationsquelle für ihn. Ausserdem hatte er Erfahrungen mit Sozialarbeit gemacht.


Zwar könnte die Poesie auf ihre Weise als auch die Philosophie dazu beitragen einen Kategorienwechsel in der Gesellschaft einzuleiten, doch dazu müsste erstmals die 'Grammatik des Lebens' eines Aristoteles erneut thematisiert werden. Vor allem käme es darauf an den Unterschied zwischen einer poetischen und einer philosophischen (logischen) Rede beim politischen Entscheidungsprozess geltend zu machen, also die poetische Sichtweise mehr in den Vordergrund rücken, so daß nicht nur eine Sicht der Dinge dominiert und alles andere als irrelevant abgetan wird. Letzteres mag erklären warum die wirkliche Armut in der Gesellschaft selten wahrgenommen wird und weshalb die gesellschaftliche Solidarität ausbleibt. Obwohl jeder das Recht auf Zugang zur Gemeinschaft hat, kann das eine schweigende Gesellschaft nicht sichern.

Das Streben nach Gleichheit und Gerechtigkeit aus der Solidarität und Freiheit heraus ist nicht der Fall in einer Gesellschaft in der nur erfolgreiche Modelle propagiert werden. Insofern die Organisationsweise direkt mit Interessen der globalen Korporationen verknüpft ist, wird der Gesellschaft ein bestimmtes System aufgedrückt, ein System das nur partiell rational ist und darum nicht für jedes Individuum passend.

Literatur als Vermittler

Orwell hat auf eindrucksvolle Weise gezeigt, dass eine literarische Aufarbeitung von Armut möglich ist (z.B. "Down and under in Paris and London").

Die Rolle der Literatur als Vermittler zwischen Poesie und Philosophie, insbesondere wenn beide laut Derrida zumindest die Philosophie zu Ende gehen scheint, spielt definitiv eine Rolle. Interessanterweise hängt all das zusammen mit der Frage wann geht der Kapitalismus zu Ende oder wann kann die Armut in der Gesellschaft endlich behoben werden?

Die von der Literatur geförderte soziale Wahrnehmung von Armut bedarf allerdings Stimmen die nicht von einer neo-liberalen Argumentation zum Schweigen zu bringen sind bzw. lächerlich gemacht und dadurch leicht als irrelevant abgetan werden können. Der Verdrängungsgeist in der Gesellschaft ist ein seltsames Mittel die sich die sogenannten Erfolgreichen bedienen. Das kann auch als eine hohe Kunst an Leugnung der Realität genannt werden.

Schließlich ist jedes Schicksal mehr als was der einzelne alleine bestimmen kann, aber gerade das Individuum des Kapitalismus meint nach amerikanischem Vorbild 'self made' zu sein. Während sich die Poesie wiederum individuell dagegen wehrt, versucht die Philosophie über den einzelnen hinaus mittels einer abstrakten Begriffssprache eine direkte Konfrontation mit der Realität zu vermeiden. Sagte bereits Hegel entspräche die Realität nicht dem Begriff, "um so schlimmer für die Realität."

Leider schweigen heutzutage die Intellektuellen, einschließlich Dichter, Philosophen und Schriftsteller mehr als dass sie die Gründe für solch eine ungleiche wirtschaftliche Entwicklung kritisch hinterfragen. Wenn Künstler überhaupt sich äußern, artikulierende sie oftmals nur eine einseitige Position was sie von der Politik halten, nämlich gar nichts. Sie scheinen nicht zu sehen, dass sie mit ihrer ablehnenden Haltung einer weit verbreiteten Stimmung, eine die auf einer anti-Politik Haltung basiert, den Weg hin zur Machtübernahme vorbereiten. In Deutschland gilt das für den rasanten Aufstieg der AfD (Alternative für Deutschland), in Frankreich hat LePen ebenso Auftrieb in Gegenden wo die Menschen zutiefst mit dem System unzufrieden sind, während die BREXIT Bewegung im Vereinigten Kingdom den Ausstieg aus der Europäischen Union per Referendum am 23 Juni 2016 erzielte.

Selbst die Universitäten in England hielten sich zurück von irgend einer kritischen Stellungnahme so als sei das Heraushalten aus der Politik eine Wahrung von Demokratie als eine neutrale Platform auf der verschiedene Meinungsäußerungen möglich seien. Nur wird überall die anti-Politik als bestes Mittel genutzt um möglichst viele die nicht mehr sich mit gängigen politischen Parteien und deren Programme identifizieren können, unter diesem neuen Bahner zu versammeln.

Heinrich Böll hat die anti-Politik als Denkschule in seinem Gespräch mit Kopelew vorweg genommen. Er sah voraus, daß die anti-Kommunismus Ideologie im kalten Krieg die nächste Denkschule hervor bringen würde, nämlich die der anti-Politik. Damit nicht genug solch eine Grundhaltung bedeutet das System schweigend zu akzeptieren. Darum handeln sich viele Künstler, Intellektuelle den Verdacht der Hypocrisy ein wenn sie zu den wichtigsten Herausforderungen der Zeit, nämlich die der Gleichheit um die Würde des Menschen zu bewahren, einfach schweigen.

Doch wie schnell können Politiker, wenn einmal an der Macht und umgeben von allen möglichen Beratern und Beamten das Gefühl für die menschliche Realität verlieren? Erstaunlich war hier allerdings ein Akt von Kanzler Helmut Schmidt der am 16 Oktober Max Frisch, Heinrich Böll, Siegfried Lenz und Verleger Unsfeld ins Kanzleramt holen liess, um Gründe des Terrorismus zu erfahren noch ehe er die Entscheidung zur Geiselnahme und Entführung nach Mogadischu traf. Max Frisch notierte diese Begegnung als Beispiel einer Vermittlung von Literatur. (Jan Bürger, „Als Kanzler Schmidt die Dichter um Rat fragtehttp://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article10853575/Als-Kanzler-Schmidt-die-Dichter-um-Rat-fragte.html)

Im Zusammenhang mit der aus den Gedichten von Paul Celan hervorgegangenen Poetologie wurde bereits erwähnt, dass Derrida das Ende der Philosophie thematisiert. Derrida meint die Philosophie müsse sich der Literatur zuwenden, um sich erneut zu beleben. Dazu passt zur Frage wann endet der Kapitalismus und die globale Wirtschaft in ihrer derzeitigen Ausprägung? Der Ökonom Steglitz kritisiert stark die globale Wirtschaft und ihre Politik, aber er tut es indem er als Alternative auf das alt bewährte Modell der National Ökonomie zurückgreift. Dazu gehört die Illusion zu meinen ein Land dass die eigene Währung dem Wechselkurs frei geben kann, würde nicht in einer ähnlichen Krise wird derzeit Griechenland landen.

Die Poesie ist hier radikaler. Gabriel Rosenstock in Irland fordert schon lange all das in einem kritischen Zusammenhang mit dem militär-industriellen Komplex zu sehen. Obwohl er sich einerseits als Anarchist zu erkennen gibt, folgt er anderseits der Argumentation der orthodoxen Kommunisten und deren Kritik am System. Leider verleitet das als permanente Opposition zu einer Nischenexistenz innerhalb des Systems. Freilich ob das mit einer neuen Interpretation von Marx einher geht, sei mal dahin gestellt. Die meisten geben zu erkennen, dass sie ähnlicher Weise einerseits/anderseits an einer totalen Negation des Systems und gleichzeitig dennoch im System existieren zu müssen, glauben. Viele Dichter tun das mit einem starken humanistischen Anspruch aber sie greifen nicht wirklich in die gegenwärtige Diskussionen ein. Eher verläuft alles vernetzt und partiell, so das es bei sehr verwirrende Botschaften bleibt und keine wirkliche Stimme gegen all das Unrecht erhoben wird.

Angesichts dieser politischen Entwicklung stellt sich um so mehr die Frage wie können Poesie und Philosophie zur Herausbildung einer gerechten Gesellschaft beitragen? Eine Stimme die das vermochte, war die von Pablo Neruda.

 

Pablo Neruda

In seiner Biographie „Ich bekenne, ich habe gelebt“, gibt Pablo Neruda seine ganze Liebe fürs Leben zu erkennen. Er schildert darin wie er als achtzehn-jähriger zu einer Heu-Ernte ritt. Als er durch einen Wald kam, war es schon spät. Die Dunkelheit würde bald einsetzen. Er war nahe dran zu glauben daß er sich verirrt hatte als er plötzlich ein schönes Haus vor sich entdeckte. Nachdem er dort Einlaß für die Nacht gebeten hatte, stellte sich heraus hier wohnten drei Schwestern aus Frankreich. Sie bewirteten ihn wie einen Ehrengast. Das Essen war köstlich. Am nächsten Tag als er aufbrechen wollte, baten sie ihm noch im Tagesbuch etwas zu schreiben. Als er das tat, entdeckte er dass ganze Menü des Essens vom Vorabend. Er fragte verwundert warum und erhielt zur Antwort dass sie gerne in Erinnerung behalten wollen was sie ihm serviert haben, um ihm nicht noch einmal das Selbe beim nächsten Besuch vorzusetzen.

Pablo Neruda beschreibt dann wie er nach einem etwas längerem Ritt endlich dort ankam. Die Heu-Ernte war im vollen Gange. Den ganzen Tag über wurde geschuftet. Abends ging er dann schlafen, und zwar in einem Heuhafen der für unverheiratete Männer vorgesehen war. Ein zweiter Heuhaufen war für unverheiratete Frauen reserviert und ein Dritter für die verheirateten. Er war im Begriff sofort einzuschlafen als er spürte wie etwas heran kroch. Zuerst dachte er an eine Schlange aber als das Geschöpf näher kam und er in der Dunkelheit vorsichtig vortastete, spürte er Haare und dann die Brüste einer Frau. Schelmenhaft fügte er seiner Schilderung hinzu, versuche mal eine Frau im Heuhaufen zu lieben ohne dabei die anderen zu wecken. Kurz vor einem glücklichen Einschlafen weil völlig erschöpft, dachte er noch kurz dass er morgen früh aufwachen muss, um zu verhindern dass die anderen etwas davon mitbekommen. Dann schlief er aber sofort ein. Als er am nächsten Morgen aufwachte, ging automatisch seine Hand zur Seite da wo diese Frau gelegen hatte. Sie war nicht da. Nur eine warme Mulde hatte sie im Stroh hinterlassen. Den ganzen Tag über schaute er sich die Frauen an. Wer hätte es gewesen sein können. Immer wieder passte Vorstellung und was er jetzt am Tageslicht sah nicht überein. Er war im Begriff die Suche aufzugeben, als die Tür des einzigen Hauses auf dem Berghang sich öffnete und eine Frau heraus trat. Er war sich nicht sicher aber es schien ihm als hätte sie ein geheimnisvolles Lächeln auf ihren Lippen. 

Beide Erinnerungen von Neruda werden auf plastische Weise geschildert. Sie sagen bereits sehr viel über des Dichters Vorliebe fürs Leben aus. Natürlich gehören dazu etliche Liebesgeschichten. Es wird gesagt als er seine dritte Frau kennen lernte und wegen ihr Liebesgedichte schrieb, wollte er sie nicht unter seinem Namen veröffentlichten, um nicht seine zweite Frau zu verletzen. Stattdessen wählte er einen Pseudonym und liess es in Neapel veröffentlichen.

Noch mehr beeindruckend waren seine zwei Jahre Flucht nach 1945. Er wurde von der Polizei als Mitglied der Kommunistischen Partei unmittelbar nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges gesucht. Neruda musste sich verbergen. Immer wieder nahmen ihn Menschen auf. Einmal war er bei einer Familie mit nur einer Tochter die aber eine Beziehung zu einem Jungen hatte dem nicht ganz zu trauen war. Kurzum lebte Neruda versteckt auf deren Dachstuhl während die Eltern ihre Tochter darum baten nichts davon ihrem Freund zu erzählen. Es war eine Vorsichtsmaßnahme, aber eine sehr wichtige.

Auf dieser Flucht entstand die wichtige Erfahrung für sein ganzes Leben, und zwar dass das Schweigen der Menschen die ihn beherbergden sein größter Schutz war. Daraus entstand ein Fluss des Schweigens. Er trug ihn Neruda  bis zur Stelle wo dieser Fluss ins Meer mündet. Da fand er seine dichterische Sprache und gab dem Menschen das wieder, was er alles im Schweigen vernommen hatte. Daraus entstand vor allem "Der große Gesang", der von Enzensberger kritisch, aber fair besprochen wurde und aufzeigt welche grobe Fehler Neruda machte, als er sich teilweise der marxistischen Ideologie zwecks Wahrnehmung gesellschaftlicher Realität verschrieb. Zwar war er zu sehr Künstler um sich nicht ganz der Logik der kommunistischen Partei hinzugeben, doch das half nichts. Es entstand zum Beispiel ein Lobgesang auf Stalin. Dabei übersah er die Folgen solch eines grausamen Diktators und zwar die Existenz der Gulag als auch die Hinrichtung vieler Kommunisten die nicht Linien-treu genug in den Augen von Stalin waren.

Menschen Stalins! Wir tragen mit Stolz diesen Namen.
Menschen Stalins! Das ist die Rangordnung unserer Zeit!
Arbeiter, Fischer, Musiker Stalins!
Ärzte, Salpeterbrecher, Dichter Stalins!
Gelehrte, Studenten und Bauern Stalins!
Handwerker, Angestellte und Frauen Stalins!
Gruß euch an diesem Tag! Das Licht ist nicht entschwunden,
nicht entschwunden ist das Feuer,
doch sich mehren soll
das Licht, das Brot, das Feuer und die Hoffnung
der unbezwinglichen Stalin-Epoche!

Enzensberger fügt fast lakonisch hinzu, dass "ein Kapitel des Buches, in dem diese Worte stehen, trägt den Titel „Der Honig Ungarns“. / Das Blut auf den Straßen von Budapest hat Neruda nicht gesehen." (Hans Magnus Enzensberger, "Pablo Neruda: der große Gesang". Text und Zeichen, Heft 1/1955 Quelle: http://www.planetlyrik.de/pablo-neruda-der-grosse-gesang/2012/09/)

Etwas ähnliches spielte sich zwischen Camus und Jean Paul Sartre ab. Sartre war ebenso kurzfristig verblendet in der Meinung nur die Partei als legitime Gewalt wäre imstande die Ungerechtigkeiten der Gesellschaft zu beseitigen. Camus selber hatte Kontakt zu Arthur Koestler der bereits 'Darkness at Noon' (Sonnenfinsternis) in 1930 geschrieben hatte. Darin zeigt er diese Umkehrung der Dialektik wenn die Partei nicht mehr für 'Prawda', also Wahrheit steht, sondern eine Unverfehlbarkeit präsentiert die nur mit einer gewaltsamen Unterdrückung einher gehen kann. Sartre zog die Lehre nach der blutigen Niederschlagung des Aufstandes in Budapest 1956. Es fragt sich also inwiefern Pablo Neruda nicht doch davon zumindest etwas hätte wahrnehmen können, um sich von der Partei und Stalin zu distanzieren. Hier erinnert Enzensberger dass die Latein-Amerikanische Version von Partei, Revolution und Utopie etwas anderes gestrickt war als in Europa.

Wo Ideologie und gesellschaftliche Wahrnehmung bei Neruda zusammen kommen, das schildert er als er eines Tages eingeladen wurde seine Gedichte zum Spanischen Bürgerkrieg Arbeitern des Zentralmarktes ganz früh am Morgen vorzutragen. Als er ankam, saßen die Arbeiter bereits auf Holzkisten, ihre oberen Körper entblösst und noch dampfend von der schweren Arbeit die sie soeben verrichtet hatten. Neruda macht die für ihn wichtige Erfahrung durch ihr Zuhören verstand er zum ersten Mal seine Gedichte.

 

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